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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 10.1902

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Rilke, Rainer Maria: Sonderheft: Heinrich Vogeler - Worpswede
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https://doi.org/10.11588/diglit.6695#0026
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3o8

R. M. Rilke: Heinrich Vogeler—Worpswede.

H. YOGELER.

y> Wald- Märchen*.. Feder - Zeichnung.

ihm begegnet, entspringt, wie er sich seiner
erwehrt, und mit welchen Mitteln er es unter-
wirft Auch seine Radierungen dürfen von
keinem anderen Standpunkte aus betrachtet
werden. Man hat sie lange für die Träume
eines späten Romantikers gehalten und das
ist auch möglich, wenn man sie wirklich für
Illustrationen derjenigen Märchen hält, von
denen sie zufällig einen ihr handlungsloses
Geheimnis halb erklärenden Namen haben.
Aber weder die »Schlangen-Braut«, noch das
»Frosch-Königs-Märchen« sind aus vor-

handenen Märchen - Stoffen
heraus entstanden, und die
»sieben Raben« sind nur
eine Maske, hinter der sieben
schwarze Vögel ungestört
ihr Wesen treiben dürfen.
Es ist rührend gewesen, was
die Verehrer, die ich ihm
abgesprochen habe, von
Heinrich Vogeler rühmten:
dass da inmitten einer un-
naiven Zeit ein Maler die
alten, schlichten deutschen
Märchen wieder empfände
und ihnen Bilder gäbe und
Ausdrücke, als ob sie von
heute wären und jeden
Augenblick sich wieder er-
eignen könnten. Das war
sehr rührend, aber auch
sehr falsch. Der Vorgang,
aus dem diese radierten
Blätter sich entwickelten, war
wesentlich anders, wesentlich
ernster und tiefer. Das war
kein naiver Romantiker, der
diese Blätter schuf, die er
lange nach ihrer Vollendung
mit dem zunächstliegenden
Märchen-Namen verkleidete,
das war ein Mensch unserer
Zeit, ringend wie wir, wenig
glücklich — wie wir, und voll komplizierter
Empfindungen. Ein Mensch mit einer schon
ganz bestimmten, aber sehr eng begrenzten
Wirklichkeit um sich, zu der alles in Wider-
spruch stand, was er als Erlebnis oder
Stimmung empfing, dem alles so fremd und
unwahrscheinlich war, dass er es nur als
Märchen erzählen und als einmal gewesen
empfinden konnte. So entstanden diese
Märchen, seine eigenen Märchen, Erlebnisse,
die über seine Wirklichkeit hinausragten, und
die er mit den wenigen Mitteln dieser Wirk-
 
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