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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 10.1902

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Rilke, Rainer Maria: Sonderheft: Heinrich Vogeler - Worpswede
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https://doi.org/10.11588/diglit.6695#0043
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R. M. Rilke: Heinrich Vogeler— Worpswede.

325

H. VOGELER. Wand-Leuchter.
Ausgeführt von M. Seifert, Dresden.

einer alten
Moor - Wand
war das Prin-
zip der Appli-
kation mit
Resten bunter
Seiden ebenso

vorgebildet,
wie der far-
bige Grund-
Gedanke und
die Malweise
seiner neuen
Bilder, die
noch in der
Entfaltung be-
griffen ist. —
An der Grenze

dieser Entwickelungen steht das kleine Bild:
»Mai-Morgen«. Man betrachte, wie da die
Luft gemalt ist, wie die Konturen der
Dinge zittern in der frischen frühen Kühle
des Sonnen - Aufgangs, wie alles voll Er-
wachen ist und Atem und Freude. Man
glaubt, in dem Rhythmus der Umrisse das
Schwingen der vielen Vogel-Stimmen zu
fühlen, die diese einsame Stunde erfüllen,
man glaubt zu sehen, wie die Farben
immer mehr Licht empfangen und voller
und dunkler werden, und dabei behält man
doch das Bewusstsein des Bildes, das Gefühl
von einem Bild-Moment, einem Moment
der Ruhe, einem Höhepunkt, gleichsam dem
Gipfel des Morgens, von dem es nun ab-
wärts geht in das Thal des Tages.

In der »Verkündigung« geht diese Ent-
wickelung, wenngleich nicht gleichmässig
und etwas tastend, weiter. Wer vor dieses
Bild tritt, dem wird vielleicht zuerst einfallen,
dass er schon eine Verkündigung dieses
Malers kennt, eine Radierung, die nicht zu
den bekanntesten Blättern Vogeler's gehört,
aber für jeden, der sie aufmerksam betrachtet,
ganz unvergesslich ist. Aber auch dieses ist
nicht die erste »Verkündigung« Heinrich
Vogeler's. Die erste und allerschönste findet
sich als Bleistift-Skizze in einem grossen
ahen Skizzen-Buch, das die Stelle eines
Tage-Buches vertritt und die Erlebnisse der
ersten Worpsweder Zeit zusammenfasst. Und

damals war die »Verkündigung« Erlebnis
für ihn. Damals, als das zarte schlanke
Mädchen, das auch neben ihm und seiner
Kunst sich entfaltete, wie eine Schwester und
Gefährtin seines Gartens, zuerst in den
Klängen seiner Guitarre Stimmen des Lebens
und Glückes vernahm und lauschend an ihm
vorbei in die Himmel schaute . . . Damals
zeichnete er diese unvergleichliche Verkün-
digung als das erste Blatt eines Marienlebens,
das Wirklichkeit wurde und still und wunder-
bar in Erfüllung ging. Und wieder musste
er diese Verwirklichung abwarten, ehe er
das Bild »Verkündigung« malen konnte.
Seine Kunst, die mit dem Leben gleichen
Schritt hält, konnte damals nur andeutungs-
weise, wie in hellseherischem Traume, jenes
Bild festhalten, das später einmal entstehen
sollte, wenn es nicht mehr Traum sein würde.
In dem Bild ist alles reifer als in der
Zeichnung: es verhält sich zu ihr wie die
Wirklichkeit zum Traum. Es ist ausgeglichen
in allen seinen Teilen, etwas von der Ruhe
der Landschaft ist auch in Maria, etwas von
der Stille des Himmels in dem singend-

H. VOGELER—WORPSWEDE. Silberner Toilette-Spiegel.
Ausgeführt von H. Wilkens & Söhne—Hemelingen.
 
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