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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 10.1902

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Rilke, Rainer Maria: Sonderheft: Heinrich Vogeler - Worpswede
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https://doi.org/10.11588/diglit.6695#0044
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326

Rainer Maria Rilke — Westerwede :

h. vogeler—Worpswede: Interieur.

Ausgeführt von Keller & Reiner—Berlin.

sagenden Engel, der sich zu ihr niederneigt.
Der Inhalt ist nirgends zusammengedrängt,
gleichmässig ist er über das ganze Bild
ausgebreitet, darin aufgelöst wie Duft im
Sommer-Tag. Das ist eine Tugend des
Bildes, aber eine Abschwächung des Aus-
drucks, auf den jene Zeichnung ausgeht
mit einer einseitigen herben Gewaltsamkeit,
die man nicht vergessen kann. Die Ver-
kündigung ist dort ein Ereignis, hier, im
Bilde, eine Stimmung. . . .

Und jenes alte »Skizzenbuch«, welches
die erste »Verkündigung« enthält, ist voll
von Ereignissen. In einfachen, oft biblischen
Bildern sprechen sie sich aus und sie reden
wie mit starker Stimme. Da ist eine Zeich-
nung, die »Fürbitte« heisst. Im Hinter-
grunde eine Eselin, bei der ein alter Mann
sich beschäftigt, vorn ein Weib, eine Mutter,
knieend, und man sieht dem Profil ihres

Mundes, welcher spricht, die Grösse und
Gewalt des Gebetes an, mit dem sie Gott
überzeugen und überreden will. Sie kniet,
und es scheinen Hunderte zu knieen, sie
betet — und es ist, als ob die Mütter eines
ganzen Volkes sich versammelt hätten, um
Gott mit ihren vereinten Worten zu ge-
winnen. Es ist, als wäre die ganze Welt
an diesem Gebete irgendwie beteiligt, —
ebenso wie auf einem anderen Blatte, das
»Ruhe auf der Flucht« überschrieben ist,
alles an dem Feiertag und an der Rast
teilzunehmen scheint, welche die heilige
Familie in der Einsamkeit feiert. Dieses
Blatt ist eine der einfachsten Kompositionen
Heinrich Vogeler's. Wie die Fürbitte ganz
von Stimmen erfüllt scheint, so ist hier
alles voll Schweigsamkeit und Stille. Wach-
sam steht der Mann bei dem Tiere, in dessen
Schatten sich die Mutter niedergelassen hat,
 
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