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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 10.1902

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Rilke, Rainer Maria: Sonderheft: Heinrich Vogeler - Worpswede
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https://doi.org/10.11588/diglit.6695#0045
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Heinrich Vogeler— Worpswede.

327

um ihrem Kinde die Brust
zu reichen. Eine helle
weite Landschaft breitet
sich um die Gruppe aus
und scheint alle Fremdheit
zu verlieren und die Hei-
mat derer zu werden, die
sich ihr anvertrauen. Fern
sieht man die Wege, die
sie gekommen sind, und
nur diese reden ganz leise
von der Hast und Angst
der Flucht, von dem Zu-
rückschauen und Zurück-
horchen und von dem
Weiterziehn in eine fremde
Zukunft und Ferne. — Es
ist interessant, an der Hand
dieses Skizzenbuches zu
betrachten, wie sehr diese
biblischen Stoffe, ähnlich
wie früher die märchen-
haften, nur Vorwände sind,
die der Künstler ergreift,
um seinen Skizzen und
Entwürfen einen Namen
zu geben. Die Anregung
zu der Radierung von den
sieben Schwänen kam nicht
von dem Märchen her,
und die Entwürfe dieses
schönen Marienlebens sind nicht über dem
Lesen der Bibel gereift. Es war wieder
die Wirklichkeit, die sich diese Bilder schuf,
und der Garten Heinrich Vogeler's, in dem
sie sich irgendwo ereigneten. Dieser Garten
senkt sich sanft gegen die Chaussee, und
von seinen höhergelegenen Punkten sieht
man über seine Mauer hinaus das tiefe flache
Land mit seinen Wiesen und den kleinen
viereckigen Gärten, mit seinen grossen
heroischen Baum-Gruppen und den Wegen
und Wasserläufen, die kommen und gehen.
Heinrich Vogeler hat diese Formen eigent-
lich nie gemalt, aber, wenn er im Bewusst-
sem dieser Ebenen, die ihn auf allen Seiten
umgaben, in seinem Garten ging, dann fühlte
er auch diesen als ein Stück jener weiten
offenen Welt, als ein Stück Ebene und
Grösse. Und man kann geradezu sagen,

h. vogeler: Thür-Ausbildung.

Ausgef. von Keller & Reiner—Berlin.

dass es der Geist der Ebene ist, der sich
in diesen Zeichnungen hinter den biblischen
Stoffen verbirgt. Das ist kein Zufall, denn
auch die Bibel ist voll Ebene; das Ziehen
von Menschen und Herden auf weithin
übersehbaren Wegen gehört ebenso zu ihr
wie die weiten gewaltigen Himmel des Tages
und der Nacht, die auf den einfachen Linien
des Horizontes aufruhen. Diese Himmel
kennt Heinrich Vogeler in ihrer nächtlichen
Grösse, für die er den schönsten und über-
zeugendsten Ausdruck gefunden hat auf
jenem Blatte, da er die Sternen - Nacht des
Firmamentes ganz erfüllt mit den hoch-
ragenden Gestalten von drei oder vier
Engeln, die singend neben einander stehen.
Ihre erhobenen Häupter sind in der Höhe
des Himmels, während der Saum ihrer
langen, weichen, gleitenden Gewänder die
 
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