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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 10.1902

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Rilke, Rainer Maria: Sonderheft: Heinrich Vogeler - Worpswede
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https://doi.org/10.11588/diglit.6695#0048
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330

R. M. Rilke: Heinrich Vogeler— Worpswede.

Baum-Gruppen streift und wie Nachtwind
an die Herden und Hirten rührt, über denen
sie die bethlehemitische Botschaft singen.
Auch dieses ist eine von den Zeichnungen
in dem grossen alten Skizzenbuche. Und
wenn Vogeler auch aus diesem Blatte ein
Bild macht, so wird es vielleicht das schönste
von seinen Bildern sein, denn seine Malerei
scheint mir besonders geeignet, das Geheimnis
dieser heiligen Nacht mit verhaltener Farbig-
keit zu erzählen. Denn eine Kunst, welche,
wie die Vogeler's, auf das Leben angewiesen
ist, wird diesen Weg immer gehen müssen;
sie wird, von der Breite des Lebens lernend,
an das Leben sich gewöhnend, stiller und
ausgeglichener werden, als manche andere
Kunst, aber sie wird an Eindringlichkeit
und Tiefe verlieren. Man kann sich eine
Kunst denken, welche allmählich zu Bildern
aufwächst, in denen alles auf der Höhe
jenes Ausdrucks steht, wie er in der
Vogeler'schen Zeichnung zur Verkündigung
einmal gefunden worden ist. Dieses aber
ist die Kunst Heinrich Vogeler's nicht. Eine
Kunst, die auf solche Offenbarungen aus-
ginge, müsste sich notwendig vom Leben ent-
fernen, denn das Leben ist ein geheimnisvolles
Nebeneinander unverkündeter Gesetze, keine
Offenbarung. Eine solche Kunst (und es ist
die ganz grosse Kunst, die Kunst der grossen
Menschen) müsste nicht auf Wirklichkeiten
warten und über alle Erfüllungen ungeduldig

hinausgehen. Das Leben, mit dem eine
solche Kunst in Wechsel-Beziehung stünde,
das Leben, aus dem eine solche Kunst käme,
kann jetzt noch nicht gelebt werden. Es
ist ein zukünftiges Leben und die Kunst,
die grosse Kunst, ist ein Stück dieser Zukunft,
und wer sie jetzt hat und schafft, hat noch
kein Leben dazu und ist heimatlos und
fremd in der Zeit. Und trotzdem ist dies
die grosse und feierliche Hoffnung, die wir
alle haben, dass die Erde nicht kalt wird,
ehe dieser erhabene und ferne Zusammen-
schluss, der den Ganzgrossen eine Heimat
gibt, geschieht; dass das Leben einmal so
gross sein wird, dass die grosse Kunst da-
raus entspringt, die jetzt fremd und ohne
Zusammenhang über den Ländern liegt wie
das Abendrot über den Strassen der Städte.
— Und darum muss man Heinrich Vogeler
seinen kleinlichen Verehrern fortnehmen und
diejenigen auf ihn verweisen, welche in jener
entfernten Synthese die einzige Erfüllung
sehen, neben die gehalten, alle anderen Er-
füllungen nur leisere Sehnsüchte sind. Sie
werden ihn als einen Vorläufer empfinden,
als einen bescheidenen und kleinen Anfänger
grosser Zukünfte. Und sie werden ihm
damit mehr Ehre anthun, als seine früheren
Lober mit ihrer Begeisterung. — Natürlich
weiss ich, dass ich ihn damit sehr vielen
entfremde, um ihn ganz wenigen zu geben.

Rainer Maria Rilke—"Westerwede.
 
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