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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 10.1902

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Van de Velde, Henry: Das neue Kunst-Prinzip in der modernen Frauen-Kleidung
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https://doi.org/10.11588/diglit.6695#0084
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Professor Henry van de Velde— Weimar:

entdeckten, sich ihr nicht mehr unterwarfen und
es wagten, sich anders zu kleiden als alle die,
mit denen sie verkehrten, und die sie um sich
sahen.« — Dann entwickelte ich meine drei Vor-
schläge: i. In ihrem Hause soll die Frau nur
dafür Sorge tragen, ihre eigene Individualität zur
Geltung zu bringen. 2. Auf der Strasse kann
sich diese Individualität abschwächen, weil das
Leben auf der Strasse ein gemeinsames ist; ihr
Kostüm soll sich gleich dem der Männer ver-
allgemeinern. 3. Bei feierlichen Gelegenheiten
soll die Frau ebenso wie der Mann eine Art von
feststehender »Zwangs-Toilette« tragen.

Ich will gleich bemerken, dass ich nicht
vergass, die Bewegung der »Reform - Kleidung«
zu erwähnen, welche mit der unseren parallel
läuft, die aber vor der unseren eine bestimmte
Gestaltung annahm, die sich in gewissen Punkten
(z. B. in hygienischer Hinsicht) mit ihr verschmelzen
kann, die sich aber der Form nach von ihr unter-
scheidet, weil sie die Schönheit, die unser letztes
Ziel bleibt, ausser Acht lässt. — Die Mode erlitt else oppler—Nürnberg. Sirassen-Kleid.
schon einen ersten regelrechten Angriff vor

einigen Jahren; die erste gegen sie orga- reich; sie herrscht heute so unumschränkt wie
nisierte Kämpfer-Schar entstand in Deutsch- vorher. Die Reform-Kleidung stützte sich aber
land und pflanzte das Banner der »Reform- auch nur auf die Grundsätze der Gesundheits-
Kleidung« auf. Die Mode widerstand sieg- Lehre; ihre Vertreter vernachlässigten gänz-
lich die Rücksicht auf Schönheit — ein Beweis,
wie wenig sie die Psychologie der Frau kannten.
Um Erfolg zu haben, hätten sie der Mode eine
andere Mode gegenüberstellen und behaupten
sollen, dass das eine neue Mode sei, z. B. die
»deutsche Mode« im Gegensatz zur französischen.
Sie hätten dann wenigstens einen ebenso guten
Erfolg gehabt wie die englische oder amerikanische
Mode, denen wir manche merkbaren Verbesserungen
in den letzten Jahren zu danken haben. Die
deutschen Kleidungs - Reformer begingen neben
ihrer zu grossen Aufrichtigkeit, wie gesagt, den
zweiten Fehler, dass sie auf den Schönheits-Sinn
keine Rüchsicht nahmen. Die Reform - Kleidung
hat etwas Puritanisches an sich, etwas Trockenes
und Glattes, das zurückstösst. Die Prospekte,
die mit nüchternen Leitsätzen das neue Dogma
vortrugen, hatten ein gar zu orthodoxes Ansehen.
Aber die Bewegung wird ihre Spuren hinter-
lassen. Ihr gebührt jedenfalls die Ehre, uns
befreit zu haben von dem modernen Folter-
Instrument, dem Korsett, das wert ist, dereinst in
else oppler. Ruck-Ansicht obigen Kleides. Altertums-Museen neben den Daumen-Schrauben
 
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