Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 10.1902

DOI article:
Van de Velde, Henry: Das neue Kunst-Prinzip in der modernen Frauen-Kleidung
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.6695#0088
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
37o

Professor Henry van de Velde— Weimar:

Anstrengungen darauf, auf Logik zu fussen,
und die Schönheit wird uns folgen! —

Ich glaube mit Recht sagen zu dürfen,
dass unsere Anstrengungen, die wir vereint
mit den englischen und amerikanischen Be-
kleidungs - Künstlern gemacht haben, auch
die grossen Pariser Häuser zwangen, dem
Prinzip der »vernünftigen Toilette« zu folgen.
Wir haben ihnen die Augen geöffnet über
die Verirrung ihres Geschmackes, wenn sie
Toiletten erschufen, die zahllose Rudimente
von früher notwendigen oder berechtigten
Teilen und all jenes Unnütze an sich hatten,
welche der Prof. Alfred Roller aus Wien
in dem ersten Artikel der »Dokumente der
Frauen« folgendermaßen geisselt: »Da sind
die Knöpfe, die nicht zum Knöpfen dienen,
die Schliessen und Schnallen, die nichts
schliessen, die Bänder, die nichts binden,
die Knoten und Maschen, die nichts zu-
sammenhalten, die Spitzen und Fransen und
sonstigen freien Endigungen, die nichts be-
enden , die Einsätze, die nicht eingesetzt
sind, die Plastrons und Unter - Ärmel, die
nui;, soweit sie sichtbar werden, wirklich
vorhanden sind, die aufgedruckten Kreuzstich-
Muster und »gewebten Stickereien« und
Auflege - Arbeiten , die mit gedrechselten
Holz - Körpern ausgestopften Quasten , die
gewirkten Handschuhe, die wie schwedisches
Leder aussehen, die Schnür-Schuhe, die in
Wirklichkeit zum Zuknöpfen dasind, die Knopf-
Schuhe, die in Wirklichkeit durch Elastiques
schliessen, und die Kravatten - Knoten und
Schärpen-Knoten und Hutband-Maschen und
Gürtel - Kokarden, die in Wirklichkeit alle
zugeschnallt oder gehaftelt werden, und die
Blumen aus Leinwand und Plüsch, die aus-
sehen wie gewachsene, und die Celluloid-
Kämme und -Nadeln, die Schildkröte und
Elfenbein und Korallen und Perlmutter vor-
täuschen müssen. Und dann alle die ganz
offen als »falsch« benannten Dinge! Falsche
Röcke, falsche Säume, falsche Ärmel, falsche
Kragen, falsche Taschen, — ich glaube, es
gibt keinen Teil der weiblichen Kleidung,
der nicht noch ein zweites Mal falsch existiert«.

Die Herrschaft solcher Verirrungen
scheint jetzt endgültig vorüber; wer aber
weiss, ob die Gefahr »der Wiederkehr«

völlig beseitigt ist! — Wenn diese uns er-
spart bleibt, und wenn die Vernunft der
Willkür der Pariser Mode-Häuser eine Grenze
setzt, so hoffen wir, dass sie noch weiteres
von uns lernen werden, besonders aber, dass
die wesentliche Schönheit eines Stoffes in
dem Spiel und dem Leben seines Falten-
wurfes besteht. Hierauf fussend muss man
Kleider - Schnitte ersinnen, die diese Falten
hervorbringen und den Geweben dieses
Leben geben, das kein »französischer« Schnitt
ihm seit langem gegeben hat.

Den Sinn des Lebens erkennen wir
nicht nur in einer Materie, nein, alle haben
uns das Geheimnis ihrer Schönheit offenbart:
die Stoffe sind nur schön, wenn sie leben.
In der Malerei die Farbe, in der Skulptur
die Bronze oder der Marmor, in der Litteratur
haben die Worte eine besondere Schönheit,
die über dem Sinn oder den Vorstellungen,
die sie erregen, stehen. — Ich erinnere mich
eines Wortes, das der Direktor des Crefelder
Museums, Herr Dr. Deneken, bei Gelegenheit
der ersten Ausstellung aussprach. »Es scheint
mir, als wenn wir einem »Falten-Stil« ent-
gegengehen«, sagte er mir, und in der That
ist es das, was uns von dem, was von den
Pariser Mode-Häusern nur mit Rücksicht
auf die Eleganz und Reiz geschaffen wird,
unterscheidet. Dieser Wunsch, Kleider mit
tiefen, weichen und bewegten Falten zu
schaffen, wo Licht und Schatten den be-
rechtigten Kampf des Lebens, das der Materie
gehört, auskämpfen, das ist der Kernpunkt
unserer Bewegung, die wir angeregt haben,
während die, welche ihr parallel läuft, und
mit welcher wir nicht verwechselt zu werden
wünschen, ihre Berechtigung nur in dem
Kampf gegen das Korsett sucht! Für uns
ist das nur eine Nebensächlichkeit, die jeder
nach seiner Art regelt, während es für sie
ein Glaubens-Artikel ist*). Wie schwankend
dieser Glaube ist, zeigen uns »Die Dokumente
der Frauen«. In ihr Gutachten reiht die
Leiterin derselben, Frau Marie Lang—Wien,
Meinungen der Ärzte ein, deren Wissenschaft

*) Das Buch von Herrn Schultze—Naumburg ist
nur eine Reihe von Demonstrationen, die die verderb-
lichen Folgen des Korsetts für den Frauen-Körper zeigen.
 
Annotationen