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Georg Fuchs—Darmstadt:
ihm die Turiner Ausstellung von 1902 ge-
stellt hat. Ich will nicht bestreiten, dass
man die Thatsachen richtig erfasste. Überall
wurde betont, dass es allein den deutschen,
holländischen, schottischen und etwa noch
amerikanischen Gruppen zu danken sei, wenn
diese etwas überraschend inszenierte Aus-
stellung mehr geworden ist, als ein bunter,
lärmender italienischer Jahrmarkt, nämlich ein
europäisches Ereignis. Jedoch es war zu er-
warten, dass auch diese Aufzählungen, alle
diese wackeren Handlanger - Dienste zu-
sammengefasst würden, dass man die Gelegen-
heit wahrnähme, neue, weitere Richt-Zeichen
aufzupflanzen und so, die Entwickelung tiefer
verstehend, in gewisse grosse Machtfragen,
selbst ein Mächtiger, eingreife. Es glaubt
ja niemand mehr das »l'art pour l'art«; man
darf es schon wagen, eine höchst merk-
würdige Wahrnehmung festzustellen, die sich
bei der Besichtigung dieser Ausstellung fast
unabweisbar aufdrängte: nämlich die hier
zum ersten Mal auffallende Verschiebung
des kulturellen Gleichgewichtes im euro-
päischen Völker-Konzerte, Ich weiss die
Einwände, welche man von vornherein er-
heben wird: Es fehlten viele aus England.
Wohl, wir kennen sie: zwei oder drei Bau-
meister, zwei oder drei Bildhauer, Maler,
Graphiker. Aber können diese feinen, ge-
schmackvollen Leute in irgend einem Punkte
etwas daran ändern, dass England zurück
schaut, dass es die volle Blüte seines höheren
Lebens in seiner Vergangenheit sucht, fühlt
und kennt, dass es sich nicht mehr zutraut,
etwas darüber hinaus zu finden, zu schaffen,
ja nur zu wollen, dass es immer zurück
blickt? Alles, was wir hier sehen, alles von
Morris, Walter Crane, Webb, Townshend,
Brangwyn, Ashbee, Voysey — diese am
wenigsten —, die Bücher aus Kelmskott:
alles das blickt zurück, wenn auch die
Urheber zu stolz waren, nur direkt nachzu-
ahmen. Der Nachwuchs fehlt! Man blättere
alle Bände der englischen Revuen durch und
suche junge Kraft in England, man lese alle
Dichtungen nach Wilde und Dawson, man
versenke seinen Blick in alle Bilder nach
Watts und in alle Zeichnungen nach Beardsley:
Wo ist Nachwuchs, d. h. mehr als glückliches
Einzel-Talent, mehr als »Romantik«, mehr
als »Praeraffaelismus« ? Wo leuchten jene
»sibyllinischen Zeichen« der Jugend, von
denen einmal Stefan George sprach, die eine
•wahrhaftige Wiedergeburt ankündigen, die
mehr ist als »Renaissance«, mehr als ein
»Wieder - Aufleben«: nämlich ein »neues
Leben«, d. h. organisches Emporwollen von
elementarer Gewalt da und dort, oben und
unten und aus allen Quellen und Wurzeln
des Volks - Ganzen. — ? — Es fehlen viele
Franzosen und Belgier. — Ich frage: wer
ausser Plumet und van de Velde? — Die
übrigen Völker der lateinischen Familie
kommen längst nicht mehr in Betracht, aus-
genommen Italien, in dessen oberen Provinzen
Georg Fuchs—Darmstadt:
ihm die Turiner Ausstellung von 1902 ge-
stellt hat. Ich will nicht bestreiten, dass
man die Thatsachen richtig erfasste. Überall
wurde betont, dass es allein den deutschen,
holländischen, schottischen und etwa noch
amerikanischen Gruppen zu danken sei, wenn
diese etwas überraschend inszenierte Aus-
stellung mehr geworden ist, als ein bunter,
lärmender italienischer Jahrmarkt, nämlich ein
europäisches Ereignis. Jedoch es war zu er-
warten, dass auch diese Aufzählungen, alle
diese wackeren Handlanger - Dienste zu-
sammengefasst würden, dass man die Gelegen-
heit wahrnähme, neue, weitere Richt-Zeichen
aufzupflanzen und so, die Entwickelung tiefer
verstehend, in gewisse grosse Machtfragen,
selbst ein Mächtiger, eingreife. Es glaubt
ja niemand mehr das »l'art pour l'art«; man
darf es schon wagen, eine höchst merk-
würdige Wahrnehmung festzustellen, die sich
bei der Besichtigung dieser Ausstellung fast
unabweisbar aufdrängte: nämlich die hier
zum ersten Mal auffallende Verschiebung
des kulturellen Gleichgewichtes im euro-
päischen Völker-Konzerte, Ich weiss die
Einwände, welche man von vornherein er-
heben wird: Es fehlten viele aus England.
Wohl, wir kennen sie: zwei oder drei Bau-
meister, zwei oder drei Bildhauer, Maler,
Graphiker. Aber können diese feinen, ge-
schmackvollen Leute in irgend einem Punkte
etwas daran ändern, dass England zurück
schaut, dass es die volle Blüte seines höheren
Lebens in seiner Vergangenheit sucht, fühlt
und kennt, dass es sich nicht mehr zutraut,
etwas darüber hinaus zu finden, zu schaffen,
ja nur zu wollen, dass es immer zurück
blickt? Alles, was wir hier sehen, alles von
Morris, Walter Crane, Webb, Townshend,
Brangwyn, Ashbee, Voysey — diese am
wenigsten —, die Bücher aus Kelmskott:
alles das blickt zurück, wenn auch die
Urheber zu stolz waren, nur direkt nachzu-
ahmen. Der Nachwuchs fehlt! Man blättere
alle Bände der englischen Revuen durch und
suche junge Kraft in England, man lese alle
Dichtungen nach Wilde und Dawson, man
versenke seinen Blick in alle Bilder nach
Watts und in alle Zeichnungen nach Beardsley:
Wo ist Nachwuchs, d. h. mehr als glückliches
Einzel-Talent, mehr als »Romantik«, mehr
als »Praeraffaelismus« ? Wo leuchten jene
»sibyllinischen Zeichen« der Jugend, von
denen einmal Stefan George sprach, die eine
•wahrhaftige Wiedergeburt ankündigen, die
mehr ist als »Renaissance«, mehr als ein
»Wieder - Aufleben«: nämlich ein »neues
Leben«, d. h. organisches Emporwollen von
elementarer Gewalt da und dort, oben und
unten und aus allen Quellen und Wurzeln
des Volks - Ganzen. — ? — Es fehlen viele
Franzosen und Belgier. — Ich frage: wer
ausser Plumet und van de Velde? — Die
übrigen Völker der lateinischen Familie
kommen längst nicht mehr in Betracht, aus-
genommen Italien, in dessen oberen Provinzen