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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 60.1927

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Wolfradt, Willi: Vererbt sich künstlerische Begabung
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https://doi.org/10.11588/diglit.9255#0024

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Vererbt sich künstlerische Begabung?

vielleichtin einemWesensunterschied der Talent-
arten? Es ist nicht einzusehen. Vielmehr wird
in dem starken handwerklichen Einschlag der
bildenden Künste die Erklärung zu suchen sein.
Ein Maler oder Bildner war immer zugleich eine
Atelierwerkstatt und Firma, zumal in den frühe-
ren Jahrhunderten. Und mag sich das auch in
jüngerer Zeit einigermaßen verloren haben, so
spielt doch bei diesen Künsten stets ein be-
stimmtes technisches Können mit, das unmittel-
bar weitergegeben werden kann. Weniger also
die Begabung als eine Praxis macht da die Erb-
schaft aus. Die vom Vater auf den Sohn über-
gegangenen allgemeinen Geisteseigenschaften
und Fähigkeiten werden zur Fortführung eines
Produktionsbetriebes in der Richtung gleicher
künstlerischer Betätigung festgelegt.

Und damit kommen wir nun zum Kernpunkt
der ganzen Frage. Man erbt ja weit mehr als
einem bewußt zu sein pflegt. Wir alle haben z. B.
die Zweibeinigkeit und die schöne Begabung
des Schlafens von unseren Vorfahren und Er-
zeugern geerbt und verdanken auch die Kunst,
Laute auszustoßen, keineswegs uns selber. Aber
was im Testament der Natur steht, zählt nicht
mit. Wir sind lauter Universalerben, ohne aber
sehr erstaunt zu sein über ein so allgemeines

Vermächtnis durch Geburt und Erziehung.
Wenn jemand von seinen Eltern einen Mund
und ein Gemüt mitbekommen hat, so gilt das
als selbstverständlich und' wird nur dann als
Erbschaft gewertet, wenn der Mund vielleicht
ebenso ungewöhnlich groß ist wie schon der
des Herrn Papa, oder wenn das Gemüt etwa
ein ebenso außerordentlich hochdramatisches
ist wie bereits das der Frau Mama. Man erbt
nicht Füße, — man erbt allenfalls Plattfüße; man
erbt nicht Empfindlichkeit, — sondern allenfalls
mimosenhafte Überempfindlichkeit. Das heißt:
je seltener und spezifischer eine bei Eltern und
ihren Kindern auftretende Eigentümlichkeit ist,
desto eher gilt sie als ererbt. Darum eben ist
man auch versucht, künstlerisches Talent bei
Vater und Sohn als Erbschaft aufzufassen.

Andrerseits aber verstehen wir doch unter
Vererbung gerade eine natürliche Kausalität,
ein fast zwangsläufiges Fortbestehen des Kräfte-
besitzes. Wollen wir die Tatsache, daß ein be-
deutender Maler einen ähnlich begabten Maler
zum Sohn hat, einfach als Vererbungsphänomen
erklären, so bleibt völlig im Dunkeln, warum
denn das Talent nur in verhältnismäßig sehr
wenigen Einzelfällen fortgepflanzt wird, denen
hundertmal so viele Gegenfälle widersprechen,
 
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