Vererbt sich künstlerische Begabung?
Nicht nur Nasen als biologische Selbstverständ-
lichkeit, auch besondere Stuppsnasen unter-
liegen in der Regel der Vererbung. Die künst-
lerische Begabung aber kehrt in der Regel nicht
im Sohne wieder, obwohl der nun schonberühmte
Name des Vaters einen solchen Fortbestand
offenbar sehr begünstigen würde. Es geht also
nicht an, die spärlichen Ausnahmen einfach als
Vererbung zu deuten.
Vielmehr müssen wir die Frage so beant-
worten : seelische und geistige Sonderfähigkeiten
der Eltern vererben sich in der Regel auf die
Nachkommen, — höchst selten aber erweisen
sie sich in entsprechenden Formen der Äußer-
ung. Der Vorgang ist kein so geradliniger. Es
ist überhaupt schon nicht richtig, von einem be-
sonderen Musiktalent zu sprechen, — es gibt
nur intellektuelle und psychische Begabungen
im allgemeinen, die unter Umständen zu Lei-
stungen führen, auf diesem Gebiet oder auf
einem andern. Ein großer Architekt würde
auch als Staatsmann oder Denker schwerlich
versagt haben, wenn die Umstände ihn von
Anfang an für diese Gebiete interessiert, in sie
hineingedrängt hätten. Und seine geistigen
Kräfte werden sich mit ebensoviel Wahrschein-
lichkeit auf seinen Sohn übertragen, wie die
besonderen Eigentümlichkeiten des Tempera-
ments. Nur werden sie sich dort auf ganz an-
derem Felde und nicht immer mit sichtbarem
Gelingen betätigen, sie können in anderer Zu-
sammensetzung eine entscheidende Lähmung
erfahren und sogar ganz neutralisiert werden.
Die der künstlerischen Leistung zugrunde lie-
genden Fähigkeiten werden in der Regel vererbt
werden, dürften sich aber schon infolge der
natürlichen Spannungen zwischen den Genera-
tionen nur selten auf demselben Gebiete er-
proben und mögen selbst auf anderem nicht
immer erfolgreich oder gar überragend in die
Erscheinung treten. Die Phantasielosigkeit eines
Vaters wird massive Tüchtigkeit des Sohnes,
die sanfte Güte einer Mutter Unschlüssigkeit
der Tochter, ■— plastische Ausdruckskraft ver-
erbt sich etwa als krimineller Zertrümmerungs-
drang und die Wurzeln melodischen Reichtums
liegen vielleicht in der krankhaften Menschen-
scheu eines Vorfahren. Die Wege gehen sehr
um und verlieren sich, die Quellen entspringen
mitten aus der Felswand. Aber das ist nur
der Anschein, wir vermögen die eigentliche
Situation eben nicht zu übersehen.....w. w.
MAX PECHSTEIN—BERLIN. »RUHENDE BOOTE« 1924
Nicht nur Nasen als biologische Selbstverständ-
lichkeit, auch besondere Stuppsnasen unter-
liegen in der Regel der Vererbung. Die künst-
lerische Begabung aber kehrt in der Regel nicht
im Sohne wieder, obwohl der nun schonberühmte
Name des Vaters einen solchen Fortbestand
offenbar sehr begünstigen würde. Es geht also
nicht an, die spärlichen Ausnahmen einfach als
Vererbung zu deuten.
Vielmehr müssen wir die Frage so beant-
worten : seelische und geistige Sonderfähigkeiten
der Eltern vererben sich in der Regel auf die
Nachkommen, — höchst selten aber erweisen
sie sich in entsprechenden Formen der Äußer-
ung. Der Vorgang ist kein so geradliniger. Es
ist überhaupt schon nicht richtig, von einem be-
sonderen Musiktalent zu sprechen, — es gibt
nur intellektuelle und psychische Begabungen
im allgemeinen, die unter Umständen zu Lei-
stungen führen, auf diesem Gebiet oder auf
einem andern. Ein großer Architekt würde
auch als Staatsmann oder Denker schwerlich
versagt haben, wenn die Umstände ihn von
Anfang an für diese Gebiete interessiert, in sie
hineingedrängt hätten. Und seine geistigen
Kräfte werden sich mit ebensoviel Wahrschein-
lichkeit auf seinen Sohn übertragen, wie die
besonderen Eigentümlichkeiten des Tempera-
ments. Nur werden sie sich dort auf ganz an-
derem Felde und nicht immer mit sichtbarem
Gelingen betätigen, sie können in anderer Zu-
sammensetzung eine entscheidende Lähmung
erfahren und sogar ganz neutralisiert werden.
Die der künstlerischen Leistung zugrunde lie-
genden Fähigkeiten werden in der Regel vererbt
werden, dürften sich aber schon infolge der
natürlichen Spannungen zwischen den Genera-
tionen nur selten auf demselben Gebiete er-
proben und mögen selbst auf anderem nicht
immer erfolgreich oder gar überragend in die
Erscheinung treten. Die Phantasielosigkeit eines
Vaters wird massive Tüchtigkeit des Sohnes,
die sanfte Güte einer Mutter Unschlüssigkeit
der Tochter, ■— plastische Ausdruckskraft ver-
erbt sich etwa als krimineller Zertrümmerungs-
drang und die Wurzeln melodischen Reichtums
liegen vielleicht in der krankhaften Menschen-
scheu eines Vorfahren. Die Wege gehen sehr
um und verlieren sich, die Quellen entspringen
mitten aus der Felswand. Aber das ist nur
der Anschein, wir vermögen die eigentliche
Situation eben nicht zu übersehen.....w. w.
MAX PECHSTEIN—BERLIN. »RUHENDE BOOTE« 1924