WIENER GRAPHISCHE BILDNISSE
VON DR. ERWIN QUEDENFELDT—WIEN
Es ist schon so, daß die Photographie die
Kunst des Porträts heruntergebracht hat.
Es muß schon ein künstlerisch und geistig hoch-
angelegter Mensch sein, der statt des üblichen
Lichtbildes eine vom Künstler hergestellte Zeich-
nung oder Graphik von sich wünscht. Ich bin
der Anschauung, daß der heutigen geistigen
Haltung des verinnerlichten Menschen, der
immer tiefere Bezirke der Seele zur Erschließung
bringt, das photographische Oberllächenbild mit
den allzureichlich abgespiegelten Lichtnuancie-
rungen nicht mehr entspricht.
Lange Jahre habe ich mich als Lichtbildner
bemüht, in photographischen Porträts die Per-
sönlichkeit zutreffen, habe aber einsehenmüssen,
daß für die geistige Erfassung des inneren Men-
schen die Photographie ein höchst schwaches
Instrument ist und daß ihre mechanische Ton-
zeichnung leer und tot ist, gegenüber demleben-
digen Strich, den der Zeichner und Graphiker
aus seiner intuitiven Anschauung und aus dem
Mitschwingen seines Herzens hervorholt. Ich
bin daher zur Graphik übergegangen und be-
nutze ein eigenes und neues Licht-Handdruck-
verfahren (Erwinodruck), um meine Zeichnungen
auf die edlen Japan- und Büttenpapiere Um-
drucken und vervielfältigen zu können.
Mein Strich ist nicht festgelegt nach einer
einmal eingeübten Methode. Er ergibt sich mir
in stets neuer Art und strömt mir aus der Er-
kenntnis von dem Wesen des zu Porträtieren-
den zu. Durch Übungen an mir selbst habe
ich gelernt, mich in einen absolut neutralen Zu-
stand zu versetzen, der wie eine tarierte Wage
für jeden Eindruck äußerst empfindlich ist.
Tritt nun eine Persönlichkeit mir gegenüber, so
entlädt sich in mir sofort eine äußerst intensive
Anschauung undErkenntnis von den besonderen
Merkmalen und Charaktereigentümlichkeiten
dieser Persönlichkeit, die sich wie vom neutralen
Grunde außerordentlich markant abheben. Ich
habe gefunden, daß diese sozusagen „morgen-
frische Erkenntnis" umsomehr getrübt wird, je
mehr Einzelheiten bei längerem Bekanntwerden
mit der Persönlichkeit sich aufdrängen. Der erste
Eindruck ist maßgebend, um aus den hervor-
HX. Äiiril 1927. 4
VON DR. ERWIN QUEDENFELDT—WIEN
Es ist schon so, daß die Photographie die
Kunst des Porträts heruntergebracht hat.
Es muß schon ein künstlerisch und geistig hoch-
angelegter Mensch sein, der statt des üblichen
Lichtbildes eine vom Künstler hergestellte Zeich-
nung oder Graphik von sich wünscht. Ich bin
der Anschauung, daß der heutigen geistigen
Haltung des verinnerlichten Menschen, der
immer tiefere Bezirke der Seele zur Erschließung
bringt, das photographische Oberllächenbild mit
den allzureichlich abgespiegelten Lichtnuancie-
rungen nicht mehr entspricht.
Lange Jahre habe ich mich als Lichtbildner
bemüht, in photographischen Porträts die Per-
sönlichkeit zutreffen, habe aber einsehenmüssen,
daß für die geistige Erfassung des inneren Men-
schen die Photographie ein höchst schwaches
Instrument ist und daß ihre mechanische Ton-
zeichnung leer und tot ist, gegenüber demleben-
digen Strich, den der Zeichner und Graphiker
aus seiner intuitiven Anschauung und aus dem
Mitschwingen seines Herzens hervorholt. Ich
bin daher zur Graphik übergegangen und be-
nutze ein eigenes und neues Licht-Handdruck-
verfahren (Erwinodruck), um meine Zeichnungen
auf die edlen Japan- und Büttenpapiere Um-
drucken und vervielfältigen zu können.
Mein Strich ist nicht festgelegt nach einer
einmal eingeübten Methode. Er ergibt sich mir
in stets neuer Art und strömt mir aus der Er-
kenntnis von dem Wesen des zu Porträtieren-
den zu. Durch Übungen an mir selbst habe
ich gelernt, mich in einen absolut neutralen Zu-
stand zu versetzen, der wie eine tarierte Wage
für jeden Eindruck äußerst empfindlich ist.
Tritt nun eine Persönlichkeit mir gegenüber, so
entlädt sich in mir sofort eine äußerst intensive
Anschauung undErkenntnis von den besonderen
Merkmalen und Charaktereigentümlichkeiten
dieser Persönlichkeit, die sich wie vom neutralen
Grunde außerordentlich markant abheben. Ich
habe gefunden, daß diese sozusagen „morgen-
frische Erkenntnis" umsomehr getrübt wird, je
mehr Einzelheiten bei längerem Bekanntwerden
mit der Persönlichkeit sich aufdrängen. Der erste
Eindruck ist maßgebend, um aus den hervor-
HX. Äiiril 1927. 4