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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 60.1927

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Michel, Wilhelm: Das Ideal des Kahlen
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https://doi.org/10.11588/diglit.9255#0062

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Das Ideal des Kahlen

FRITZ AUG. BREUHAUS

»GEDECKTE TERRASSE«

erhebt. Wir streiten nicht darüber, ob eine
solche Gewaltsamkeit, eine solche Einseitigkeit
uns heute auferlegt sei oder nicht. Wir glauben
durchaus, daß sie den Realitäten des Augen-
blicks entspricht. Aber wir bestreiten, daß sie
Ausdruck eines ungebrochenen, vollmensch-
lichen Lebens sei; wir behaupten, daß diese
Emanzipierung der Zweckfrage einer Verküm-
merung der menschlichen Totalität entspreche.
Die Zweckfrage ist ein Fragment aus der
Gesamtheit der an das Ding zu richtenden An-
forderungen; wir behaupten, daß nur eine frag-
mentarisch gewordene Menschheit auf
das Ideal des Kahlen, d. h. auf die Verselb-
ständigung der Zweckfrage verfallen konnte.
Ganz ohne Zweifel ist eine Zeit, die Architektur
als Kunst kennt, d. h. die aus innerem Zwang
den Stein und das Holz zu Trägern von seelisch
bedeutsamen Formen macht, reicher, mensch-
licherund geistig gewaltiger als eine Zeit, deren
Baukünstler in nackten Würfelformen denken.
Vor zweihundert Jahren hat man noch die Ge-
schützrohre, vor hundert, vor fünfzig Jahren
noch den Hammer, den Hobel, den Mörser,
das Spinnrad mit Ornamenten geschmückt. Es

wäre ungemein einfältig, dies von modernen
Gesichtspunkten aus zu verunglimpfen. Denn
es zeigt sich darin an, daß die Zweckfrage noch
nicht aus der Verbindung mit den übrigen Be-
dürfnissen des Menschen herausgetreten ist, daß
sie noch schläft in der Totalität eines Menschen-
wesens, in welchem sich noch eine Spur der ur-
sprünglichen kindhaften Einheit erhalten hat.
Das Vordringen oder gar die Alleinherrschaft
der technischen Form kann sich nur innerhalb
einer Menschheit ereignen, der sehr vieles
Menschliche fremd geworden ist. Sie bedeutet
einen Rückzug der seelischen, der formenden,
der ausdruckgebenden Kräfte vor der Zweck-
frage ; sie bedeutet eine geistige Lähmung und
eine auf die Dauer unhaltbare Illusion. Denn
Illusion ist alles, was nicht mit der Gesamtheit
der menschlichen Wesens- und Lebensbeding-
ungen rechnet. Illusion ist es, zu glauben, daß
der Mensch jemals dauernd auf die Betätigung
des Formtriebes, des Spiel- und Ausdrucks-
strebens, des Beseelungsdranges, des Dranges
zur Weltvermenschlichung verzichten könne.

Illusion ist es vor allem, zu glauben, daß der
Mensch jemals rein aus dem Verstände leben
 
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