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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 60.1927

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Michel, Wilhelm: Das Ideal des Kahlen
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https://doi.org/10.11588/diglit.9255#0066

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Das Ideal des Kahlen

bretjhaus & rosskotten

»bootshaus am see«

könne, wie es die Lobredner der ausschließ-
lichen, der abstraklen Zweckbedienung zu mei-
nen scheinen. Was ist es denn, was wir „ver-
stehen" ? Wir „verstehen" das Tote, aber nie-
mals das Lebendige. Leben läßt sich anschauen,
glauben, lieben und verehren; aber nicht „ver-
stehen" . Also läßt sich auch aus dem Verstände
nicht leben, sondern höchstens das Lebendige
sichern, abgrenzen und gegen den Überschwang
der dunklen Kräfte befestigen.

Nochmals: es wird hier nicht in Zweifel
gezogen, daß die Askese notwendig ist. Wahr-
scheinlich wird sie eine Entlastung von mancher
alten Schablone, Phrase, Manier und Verlogen-
heit bringen. Aber wer den Menschen in seiner
Gesamtheit und in seinem wahren Wesen kennt,
der wird die Blindheit derer nicht mitmachen
können, die nun das Ende aller Architektur,
alles Schmuckes, alles beseelenden Gestaltens
gekommen wähnen. Wir wollen nicht die im
Lauf befindliche Auseinandersetzung zwischen
künstlerischer und technischer Form verdächtig
machen. Wir wollen nicht einer zeitunkundigen
Rückwärtserei das Wort reden. Wir wollen

nur unsere Kunstbetrachtung — mindestens
diese! — freihalten von einem Selbstbetrug.

Findet unsere Zeit den Mut, sich in jener
Askese zu einer tatsächlich vorhandenen künst-
lerischen Impotenz zu bekennen, so liegt darin
etwas Anerkennenswertes. Aber wer will uns
das Wissen nehmen, daß der Mensch nicht so
ist, wie ihn die verselbständigte Zweckfrage
gern haben möchte? Daß er reicher, vielfältiger,
seelenvoller, bedürftiger und unendlich viel
komplizierter ist, als die Asketen ihn zu sehen
belieben? Es wäre unwürdig, dieses Wissen
zu verleugnen. Es wäre auch unklug.

Denn wenn die neue Lage real hergestellt
ist, wenn wir uns am Ideal des Kahlen genügend
ersättigt und unser lebendiges Leben hinreichend
an ihm gemessen haben, dann wird unfehlbar
auch die Besinnung auf die anderen Seiten der
menschlichen Natur sich wieder melden. Nichts
stellt sich zuverlässiger ins Gleichgewicht als ein
Versuch, sich vom Menschen ein verstümmeltes
Bild zu machen und ihn danach zu behandeln.
Da gilt immer noch das alle Wort: Naturam
expellas furca, tarnen usque recurret. — w. m.
 
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