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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 60.1927

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Michel, Wilhelm: Das plastische Werk von Edgar Degas
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https://doi.org/10.11588/diglit.9255#0107

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FRAUENKOPF«

DAS PLASTISCHE WERK VON EDGAR DEGAS

Lange Zeit stand der Maler Edgar Degas dem
j Plastiker gleichen Namens im Licht. Erst
die letzten Jahrzehnte haben Degas' bildhaue-
rische Leistungen mehr in den Vordergrund ge-
stellt. Es hat sich dabei ergeben, daß dieser
erstaunliche Mensch als Plastiker mindestens
denselben Rang behauptet wie als Maler. Ein
Phänomen; ein Wunder; ein Gipfel.

Gewiß ist es malerische, nicht eigentlich
skulpturale Plastik. An die Griechen darf man
dabei nicht denken. Kein Letztes und Geistig-
stes schwebt darüber. Keine Kunst des Bauens
steht dabei im Vordergrund, kein monumentales
Streben bricht hervor. Aber von diesen Grup-
pen und Einzelfiguren, von diesen Menschen-
und Tiergestalten geht ein so unmittelbarer An-
hauch von Leben aus, daß man beglückt und
fast bestürzt zugleich davorsteht. Die ewige
Wahrheit des Impressionismus lebt wieder auf,
die Wahrheit, daß im flüchtigsten Moment das
dichteste Leben steckt. Wo es auf Geist an-
kommt, da wird in der Kunst die Dauer gesucht,
da wird aus vielen Augenblicken des wechseln-
den Lebensaspektes die Summe gezogen. Wo
es aber auf das geschöpfliche Leben ankommt,
da ist der kleinste und bewegteste Augenblick
gerade inhaltsreich genug. Das ist der Grund,
weshalb impressionistische Daseinsfreude mit
ihrer vollkommen irdischen Einstellung immer
wieder an das Momentane und Transitorische
anknüpft. So entstehen die winzigen Geschich-

ten eines Peter Altenberg, so die Skizzen eines
Toulouse-Lautrec, so die Wachsplastiken und
Bronzen von Degas. Es gibt unter ihnen ganze
Serien von Bewegungsstudien, im bildsamsten
Material mit unmittelbarer Hand in die Luft
gestellt; Dinge, bei denen es nicht auf Ober-
fläche, Körper, stoffliche Charakteristik an-
kommt, sondern lediglich auf das Entzücken
an der Bewegung. Hitzig, feurig vollzieht sich
die Bildung der Materie, man sieht den Daumen
und die ganze intelligente Hand die wesent-
lichen Linien schnell nachreißen, man sieht sie
den weichen Stoff geradezu durchpflügen, so
daß tiefe Furchen und Kämme entstehen, unter
denen ein menschlicher Körper gerade nur ge-
ahnt werden kann. Und doch dampft das Ge-
bilde von Leben; es ist drängend voll von An-
schauung und faunischer Daseinsüppigkeit und
hält sich doch mitten in dieser animalischen
Begeisterung auf der Linie einer untädelhaften
Bestimmtheit und Präzision. Man weiß nicht,
was man an diesen Figuren, diesen Tänzerin-
nen und Pferden, mehr bewundern soll: den
Raptus, die Kreiseltollheit der Bewegung oder
die nachtwandlerische Genauigkeit und Be-
herrschtheit der Darstellung. Beides begegnet
sich in diesen Schöpfungen auf dem höchsten
Punkt, in reinster Form, Die lockerste Leben-
digkeit verbindet sich mit der geistreichsten
Souveränität der Prägung. Die wunderbarste
Schärfe der Beobachtung steht neben einer un-

XXX. Mai 1927. 4*
 
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