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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 60.1927

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Lotz, ..: Gestaltung und Sehen
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https://doi.org/10.11588/diglit.9255#0276

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Gestaltung und Sehen

vereinigte staatsschulen

»schach-figuren«

auch nicht bei den Führern der Bewegung, so
doch in der breiteren Masse der Formen ver-
langenden Käufer. Es muß doch zu denken
geben, daß sowohl der Jugendstil, wie der mo-
derneRationalismus, diebeide derselbenldee als
Wurzel entspringen, als auch der Expressionis-
mus zu einer Art der Linienführung und der
Komposition wurden, daß das für das Auge leicht
Sichtbare aufgegriffen wurde, und daß der trei-
bende Gehalt sich nicht durchsetzen kann.

In früheren Zeiten kannte man keine Mode,
man kannte nur die für die Zeit selbstverständ-
liche stabile Form. In solchen Kulturepochen,
wie wir sie zu bezeichnen pflegen, war nicht
das Ästhetische, das Sichtbare, das Wesen der
Form. Form war Ergebnis, nicht Absicht. Beim
Sehen blieb man beim Augenerlebnis nicht
stehen, sondern erlebte sofort die Kraft, die die
Formen geschaffen. — In der mittelalterlichen
Madonna sah man nicht das ästhetische Ab-
wägen der Formen und Linien, sondern erlebte
sofort den Madonnenbegriff jener Zeit, der
selbstverständlicher Besitz jedes Menschen war.
Für den Neger ist die Holzschale ein Behälter,
er sieht nicht die Form, sondern fühlt sofort das
Zusammenhalten und Bewahren in seinem eige-
nen Körper nach. Beispielhaft möchte ich sagen,
wenn er mimisch eine Schale darstellen soll,
wird er die Handflächen leicht gekrümmt zu-
sammenhalten, wir dagegen werden mit dem
Finger die Silhouette in die Luft zeichnen.

Wir sind noch ganz Kinder des Impressionis-
mus, wir betrachten alles auf seine Wirkung
hin, wir stehen davor und gehen nicht hinein
in die Form. Unsere technischen Instrumente
sind nicht als ästhetische Gebilde zu werten,
wie das vielfach geschieht, die beiden Dinge
haben garnichts miteinander zu tun, ebenso
kann eine romanische Vierungskuppel in ihrem
wahren Wert nicht erfaßt werden, wenn man
ihre Formen auf ihre Schönheit hin prüft. Hier
ist es ein sinnliches Raumerlebnis, die Leere, das
was zwischen den Wänden ist, ist das Wichtige,
dort ist es der physikalische Vorgang. Wenn
man eine moderne Eisenkonstruktion neben
einem gotischen Netzgewölbe zeigt, so ist das
Sichtbare ähnlich, das wirklich Formschaffende
ist in beiden Fällen etwas ganz Verschiedenes.
Gemeinsam ist aber, daß in beiden Fällen die
Form nicht Selbstzweck ist. Als Ausdruck dort
des Religiösen, irrational Räumlichen, hier des
materiell Zweckhaften ist die Form Ausdruck
und damit Mittler für den Beschauer, daher
Weg, um die bauende Kraft zu spüren. . . l.
*

KUNST UND NATUR. Kunst lieben heißt
auch die Natur lieben. So wird sie auch
ein Wegweiser zur Natur und dadurch auch zum
Segen für uns. Wieviele wurden erst durch ein
Kunstwerk aufmerksam gemacht, welchen Reich-
tum die Natur für uns alle bereit hat, welche
Schönheit uns zur Freude. Wilhelm steinhausen.
 
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