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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 60.1927

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Ruppel, Karl Heinrich: Vom Wert der Anschauung
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https://doi.org/10.11588/diglit.9255#0408

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VOM WERT DER ANSCHAUUNG

VON K. H. RUPPEL

Es mag sehr unzeitgemäß und wenig vom
Geist der Gegenwart angeweht erscheinen,
wenn man heute seine Stimme zum Preise der
Kontemplation erhebt. Denn als solche fasse
ich die Anschauung, von deren Wert hier einige
Worte gesagt sein sollen. Die mystische Psycho-
logie definiert nach Ernst Robert Curtius Kon-
templation als „eine Haltung, die eine reale
Verbindung zwischen dem Sehenden und dem
Gesehenen herstellt". Der Nachdruck liegt auf
dem Wort „real" ; kontemplativ ist das Verhält-
nis eines Anschauenden zum Angeschauten
dann, wenn es eine wirkliche und wirksame
Beziehung herstellt. Wichtig ist indessen, daß
die Form dieser Beziehung genau bestimmt ist
und zwar als ein Aufgehen des Schauenden im
Geschauten. Das Merkmal jeder Kontemplation
ist die Überwindung des ausschließlichen Ich-
Zustandes, die vollkommene Apperzeption des
Individuums durch das Allgemeine. Keine Macht
der Welt fordert stärker zur kontemplativen
Haltung auf, ja setzt sie zu ihrer Bestätigung
geradezu voraus, als die Kunst. Sie ist es, die
Anschauung, Versenkung in sich verlangt, sie
reizt das Ich am stärksten, sich aufzugeben. Die
Wahrnehmung eines Kunstwerks geschieht zwei-
fellos unter Affektbeteiligung (wobei Affekt im
Sinne Spinozas jedes Hervorrufen eines zunächst
nicht näher bestimmten Willensaktes bedeutet);
Gefühl und Verstand sind dabei gleichermaßen
beteiligt. Die Wirkung des Kunstwerks soll aber
affektreinigend sein, d. h. sie soll dem Menschen
unabhängig von seinen Willensfunktionen ihr
Reich erschließen. Das ganze Geheimnis der
künstlerischen Empfindung beruht in der Fähig-
keit zur Kontemplation; dem nichtkünstlerischen
Menschen ist alles, was das Leben ihm vor Augen
bringt, ausschließlich Anlaß zur Willensbetätig-
ung; „nur seinen Weg im Leben sucht er", sagt
Schopenhauer im dritten Buch der „Welt als
Wille und Vorstellung", „allenfalls auch alles was
irgend einmal sein Weg werden könnte, also
topographische Notizen im weitesten Sinn: mit
der Betrachtung des Lebens selber als solchen
verliert er keine Zeit". Der nichtkünstlerische
Mensch kann sich nicht hingeben, er ist zu keiner
Zeit imstande, sich von sich selbst zu trennen.
Man kann die Erfahrung unendlich oft machen,
daß einseitig willensbestimmte und daher stark
affektunterworfene Menschen in den allermei-

sten Fällen den Dingen der Kunst gegenüber
vollkommen gleichgültig sind, ja eine ausge-
sprochene Abneigung gegen sie haben. Sie
lehnen sich dagegen auf, benommen oder be-
zaubert zu sein, ihr Ich sträubt sich, sich in die
Gewalt einer anderen außerhalben Macht zu
begeben. Nicht der Nüchterling allein, der Ba-
nause, ist unter allen Umständen kunstfeindlich.
Auch temperamentvolle, bewegliche Menschen,
die im Praktischen oder Begrifflichen leicht und
zuverlässig fassen, können, sofern sie nicht kon-
templationsfähig, sondernaffektbesetzt, alsorein
willensbestimmt sind, hoffnungslos von allem
Künstlerischen getrennt sein.

Es liegt also ein tiefer Sinn darin, wenn man
sagt, jemand sei in den Anblick eines Bildes
oder in das Anhören einer Musik oder eines
Verses „versunken". Der tiefste Zauber des
Kunstgenusses besteht darin, daß das Ich in fast
mystischer Weise in dem Angeschauten unter-
geht; im Selbstvergessen spricht sich der
magische Bann der Kunst am deutlichsten aus.
Der Genuß aller geistigen Dinge ist im Grunde
überhaupt nur auf kontemplative Weise möglich.
Diese tiefe Ruhe hat natürlich nichts mit einem
platten denkfaulen Quietismus zu tun ; Beschau-
lichkeit ist eine Tugend, Philistrosität, wenn auch
kein Laster, so doch ein bedenklicher Mangel.
Der nüchterne, nicht aus der bequemen Ruhe
zu bringende Philister ist von der Kontemplation,
welche unter allen Umständen über das eigene
Ich hinausführt und mithin auch nicht in der
Form der subjektiven, privaten Bequemlichkeit
auftreten kann, genau so weit entfernt wie der
ruhelos tätige Willensmensch.

Man spricht oft von der befreienden Wirkung
der Kunst und hat damit; namentlich in der
Laienästhetik, viel Unheil angerichtet, insofern
in buchstäblicher Interpretation mit dieser Be-
freiung einer sehr bedenklichen Verflachung, ja
Verkitschung das Wort geredet wurde. Befreiung
durch die Kunst kann immer nur Befreiung vom
Ich, Loslösung vom Willen bedeuten. Um zu
dieser notwendigen Identität des Ich mit der
erkannten übergeordneten Kraft zu gelangen,
dazu verhilft einzig und allein die Kontemplation,
die reine Anschauung. Die „anschauende Er-
kenntnis" (um noch einmal Schopenhauer zu
zitieren) ist die höchste und reinste Form aller
dem Menschen überhaupt möglichen Erkenntnis.

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