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Dilettanten.
halbe Nacht: „Seht, wie herrlich strahlet der Morgen",
und zwar mit einer Stimme, an der man durchaus nicht er-
kennen konnte, ob sie aus der Kehle eines hungerigen Bären,
oder eines gereizten Stieres, oder eines Metzgerhundes kam, der
ein junges Kalb zum Fortschritt treibt. Es vereinigte sich in
dieser Stimme Alles, was nur einigermaßen ein menschlich ge-
formtes Ohr zur Verzweiflung bringen kann.
Vier Wochen lang hört' ich diesem Sänger zu. Endlich riß
meine deutsche Geduld, und ich machte ihm eines Morgens
einen Besuch. Ich fand meinen Peiniger just beim Frühstück,
das man füglich ein Mittagsmahl hätte nennen können. Er
steckte zwischen Schinken, Limburger Käse, Eiern und Weißbrod-
pyramiden, und man sah es seinen Kauwerkzeugen gleich an,
daß von allen diesen Viktualien kaum eine winzige Skizze sei-
nem Appetit entrinnen würde, so wahrhaft colossal war er.
Der Sänger war, wenn ich so sagen darf, dreistöckig gebaut;
aber nicht nur seine höhe, auch seine Breite war beträchtlich,
so daß ich gleich bei seinem ersten Anblick es für das rathsamste
hielt, sanft zu bitten, statt stürmisch zu fordern. Als er mich
also um die Ursache meines.Besuches fragte, sprach ich erst von
der Menschheit im Allgemeinen, dann von den fünf Menschen-
racen im Besondern. Nicht ohne Geschicklichkeit kam ich sodann
auf den civilisirten Europäer, und desien Fähigkeit, in Kunst und
Wisienschaft sich hervorzuthun. Diese Einleitung, welche ohnge-
fähr eine viertel Stunde dauerte, ward von meinem Tyrannen
mit der höchsten Aufmerksamkeit angehört. Dieß hinderte ihn
aber nicht im geringsten an seiner angenehmen Beschäftigung.
! Ich sah, wie er mit einer wahrhaft erstaunenswerthen Virtuo-
sität die Eier austlopfte, und in einem Nu wie ein Vampyr
! aussaugte; ich sah, wie er, ohne nur ein einziges Mal irre zu
! werden, regelmäßig nach dem Schinken den Käse und nach
I diesem ein Ei ergriff. Kurz, ich sah hier nicht bloß einen rohen
j Empiriker, ich sah ein wahrhaftes Talent, und kaum war ich
: mit der Einleitung fertig, als er auch mit seinem Frühstück
j fertig war. Ruhig wischte er sich Mund und Kinn, und rückte
seinen Sesiel etwas näher zu mir, der ich eben von der Kunst
im Allgemeinen zu der Gesangkunst im Besondern überging.
Ich sprach von Orpheus, Arion, Homer, Pindar, König David,
Virgil und horaz, die sämmtlich große Sänger waren; ich
sprach hierauf von den Minnesängern und Meistersängern, und
kam natürlich auf die Opernsänger. Von den Opernsängern
kam ich auf die Zuhörer, von den Zuhörern auf die Ohren,
von den Ohren auf das Ohrensausen, und — jetzt war ich
endlich am gewünschten Ziele.
Ich pausirte einen Augenblick, um zu sehen, welche Wirkung
meine Rede hervorgebracht. Mein fürchterlicher Zuhörer legte
ruhig die Serviette auf den Tisch, stocherte sich die Zähne, sah
mich an und sagte: „Sie haben mit der Menschheit im Allge-
meinen begonnen und mit dem Ohrensausen im Besondern auf-
gehört. Was geht Sie die Menschheit, was geht mich das
Ohrensausen an?"
„Mein Herr," erwiderte ich, „wenn Sie ein fühlend Herz
für die Menschheit besitzen, so werden Sie gewiß nicht ohne
Schonung gegen diejenigen verfahren, welche das dunkle Ver-
hängniß mit Ohrensausen heimgesucht; und mein Herr," setzte
ich mit sanfter Stimme hinzu, „ich bin leider mit diesem fürch-
terlichen Uebel geplagt."
„Da ich nicht Arzt bin, entgegnete Jener, „so weiß ich in
der That nicht, wie ich Ihnen helfen kann."
„Doch, mein Herr," begann ich schnell, „Sie können mir
allerdings helfen."
„Mein Herr," sprach mein Tyrann, „ich singe nicht, um
kranke Leute zu kuriren. Ich singe aus Liebe zur Kunst; ich
singe aus innerem Drang; ich singe" —
„Sie haben mich mißverstanden," unterbrach ich ihn hastig ;
„ich bin Ihr Zimmernachbar, Ihr unglückseliger Zimmernach-
bar, der an Ohrensausen fürchterlich leidet; Ihr Zimmernachbar,
desien einzige Erholung der Schlaf ist, und dessen Schlaf Sie
durch Ihren Gesang stören."
„Und was geht das mich an?" fragte der fürchterliche
Sänger mit einer Ruhe, die mich zur Verzweiflung brachte.
„Könnten Sie nicht während des Tages singen?" fragte
ich halb ärgerlich, halb bittend.
„Ich soll während des Tages singen?" wiederholte er ge-
dehnt. Kann ich der Begeisterung gebieten? Kann ich zu mei-
nem Genius sagen: „Jetzt komme! Jetzt gehe!? Muß ich nicht
singen, wenn der innere Drang sich meines Herzens bemächtigt?"
„Aber um des Himmels willen!" entgegnete ich heftig,
„Ihr Genius ist doch kein Nachtwandler, Ihre Begeisterung ist
doch keine Somnambüle, daß beide sich just einfinden, wenn
alle vernünftigen Menschen der Ruhe pflegen!"
„Was schert mich die Ruhe der vernünftigen Menschen?"
erwiderte mein Quälgeist. „Die Kunst ist sich selbst Zweck.
Ich singe nicht, weil ich will; ich singe, weil ich muß, weil mir
eine innere, heilige Stimme zuruft: Singe! Singe! Singe!"
„Aber warum singen Sie denn immer dasselbe Lied?" fragte
ich im höchsten Verdruß. Warum singen Sie denn immer: Wie
Dilettanten.
halbe Nacht: „Seht, wie herrlich strahlet der Morgen",
und zwar mit einer Stimme, an der man durchaus nicht er-
kennen konnte, ob sie aus der Kehle eines hungerigen Bären,
oder eines gereizten Stieres, oder eines Metzgerhundes kam, der
ein junges Kalb zum Fortschritt treibt. Es vereinigte sich in
dieser Stimme Alles, was nur einigermaßen ein menschlich ge-
formtes Ohr zur Verzweiflung bringen kann.
Vier Wochen lang hört' ich diesem Sänger zu. Endlich riß
meine deutsche Geduld, und ich machte ihm eines Morgens
einen Besuch. Ich fand meinen Peiniger just beim Frühstück,
das man füglich ein Mittagsmahl hätte nennen können. Er
steckte zwischen Schinken, Limburger Käse, Eiern und Weißbrod-
pyramiden, und man sah es seinen Kauwerkzeugen gleich an,
daß von allen diesen Viktualien kaum eine winzige Skizze sei-
nem Appetit entrinnen würde, so wahrhaft colossal war er.
Der Sänger war, wenn ich so sagen darf, dreistöckig gebaut;
aber nicht nur seine höhe, auch seine Breite war beträchtlich,
so daß ich gleich bei seinem ersten Anblick es für das rathsamste
hielt, sanft zu bitten, statt stürmisch zu fordern. Als er mich
also um die Ursache meines.Besuches fragte, sprach ich erst von
der Menschheit im Allgemeinen, dann von den fünf Menschen-
racen im Besondern. Nicht ohne Geschicklichkeit kam ich sodann
auf den civilisirten Europäer, und desien Fähigkeit, in Kunst und
Wisienschaft sich hervorzuthun. Diese Einleitung, welche ohnge-
fähr eine viertel Stunde dauerte, ward von meinem Tyrannen
mit der höchsten Aufmerksamkeit angehört. Dieß hinderte ihn
aber nicht im geringsten an seiner angenehmen Beschäftigung.
! Ich sah, wie er mit einer wahrhaft erstaunenswerthen Virtuo-
sität die Eier austlopfte, und in einem Nu wie ein Vampyr
! aussaugte; ich sah, wie er, ohne nur ein einziges Mal irre zu
! werden, regelmäßig nach dem Schinken den Käse und nach
I diesem ein Ei ergriff. Kurz, ich sah hier nicht bloß einen rohen
j Empiriker, ich sah ein wahrhaftes Talent, und kaum war ich
: mit der Einleitung fertig, als er auch mit seinem Frühstück
j fertig war. Ruhig wischte er sich Mund und Kinn, und rückte
seinen Sesiel etwas näher zu mir, der ich eben von der Kunst
im Allgemeinen zu der Gesangkunst im Besondern überging.
Ich sprach von Orpheus, Arion, Homer, Pindar, König David,
Virgil und horaz, die sämmtlich große Sänger waren; ich
sprach hierauf von den Minnesängern und Meistersängern, und
kam natürlich auf die Opernsänger. Von den Opernsängern
kam ich auf die Zuhörer, von den Zuhörern auf die Ohren,
von den Ohren auf das Ohrensausen, und — jetzt war ich
endlich am gewünschten Ziele.
Ich pausirte einen Augenblick, um zu sehen, welche Wirkung
meine Rede hervorgebracht. Mein fürchterlicher Zuhörer legte
ruhig die Serviette auf den Tisch, stocherte sich die Zähne, sah
mich an und sagte: „Sie haben mit der Menschheit im Allge-
meinen begonnen und mit dem Ohrensausen im Besondern auf-
gehört. Was geht Sie die Menschheit, was geht mich das
Ohrensausen an?"
„Mein Herr," erwiderte ich, „wenn Sie ein fühlend Herz
für die Menschheit besitzen, so werden Sie gewiß nicht ohne
Schonung gegen diejenigen verfahren, welche das dunkle Ver-
hängniß mit Ohrensausen heimgesucht; und mein Herr," setzte
ich mit sanfter Stimme hinzu, „ich bin leider mit diesem fürch-
terlichen Uebel geplagt."
„Da ich nicht Arzt bin, entgegnete Jener, „so weiß ich in
der That nicht, wie ich Ihnen helfen kann."
„Doch, mein Herr," begann ich schnell, „Sie können mir
allerdings helfen."
„Mein Herr," sprach mein Tyrann, „ich singe nicht, um
kranke Leute zu kuriren. Ich singe aus Liebe zur Kunst; ich
singe aus innerem Drang; ich singe" —
„Sie haben mich mißverstanden," unterbrach ich ihn hastig ;
„ich bin Ihr Zimmernachbar, Ihr unglückseliger Zimmernach-
bar, der an Ohrensausen fürchterlich leidet; Ihr Zimmernachbar,
desien einzige Erholung der Schlaf ist, und dessen Schlaf Sie
durch Ihren Gesang stören."
„Und was geht das mich an?" fragte der fürchterliche
Sänger mit einer Ruhe, die mich zur Verzweiflung brachte.
„Könnten Sie nicht während des Tages singen?" fragte
ich halb ärgerlich, halb bittend.
„Ich soll während des Tages singen?" wiederholte er ge-
dehnt. Kann ich der Begeisterung gebieten? Kann ich zu mei-
nem Genius sagen: „Jetzt komme! Jetzt gehe!? Muß ich nicht
singen, wenn der innere Drang sich meines Herzens bemächtigt?"
„Aber um des Himmels willen!" entgegnete ich heftig,
„Ihr Genius ist doch kein Nachtwandler, Ihre Begeisterung ist
doch keine Somnambüle, daß beide sich just einfinden, wenn
alle vernünftigen Menschen der Ruhe pflegen!"
„Was schert mich die Ruhe der vernünftigen Menschen?"
erwiderte mein Quälgeist. „Die Kunst ist sich selbst Zweck.
Ich singe nicht, weil ich will; ich singe, weil ich muß, weil mir
eine innere, heilige Stimme zuruft: Singe! Singe! Singe!"
„Aber warum singen Sie denn immer dasselbe Lied?" fragte
ich im höchsten Verdruß. Warum singen Sie denn immer: Wie
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Dilettanten"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Public Domain Mark 1.0
Creditline
Fliegende Blätter, 2.1846, Nr. 26, S. 10
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg