Fliegende Blätter (72.1880 (Nr. 1797-1822))

Wir haben soeben gehört, wie der An-
geklagte Gott zum Zeugen seiner Unschuld
angcrufen; Gott können wir nicht vvrladen
lassen. O könnten wir es nur; die statt-
liche Reihe der Entlastungszeugen würde
sich sicherlich um eine ausschlaggebende
Stimme vermehren; denn es gibt eine
höhere Gerechtigkeit!

Und wenn ich all die angeführten Be-
weise mir vor Augen halte, so muß ich
fragen, wo sind überhaupt solche? Wo sind
die Beweise, daß mein Client sich an dem
§ 86 lit. a des allgemeinen St.-G.-B. vom
21. Febrpar 1852 spccicll vergangen? Ich
frage Sie, wo?

Angenommen, aber nicht zugegeben,
daß in der Brust des Angeklagten ein
schwarzer Dämon Platz gegriffen, der ihn
in einem unbewachten psychologischen Mo-
ment dazu getrieben hätte, ein unschuldiges
Leben meuchlings hinzumordcn, der ihn
mit furienhafter Gewalt gepeitscht hätte,
dem Verbrechen unter die Arme zu greifen,

so frage ich Sie, meine Herren Richter aus
dem Volke, sieht so ein Mörder ans?
UrtheilenSie vom Standpunkte desMenschen-
kcnners: sieht so cm Mörder aus? Ist das
die Physiognomie eines Mannes/ in dessen
Brust die gräßlichsten, thierischcn Leiden-
schaften wühlen?

Auch die Staatsanwaltschaft ist nicht
in der angenehmen Lage, den Nachweis zu
liefern, daß mein Client der Mörder ist;
aber selbst wenn sie es wäre, so trifft der
§ 86 nicht zu, höchstens kann hier der § 83
zur Geltung gebracht werden, was ich hic-
mit thue und protokollirt wünsche.

Nein, meine Herren, und tausendmal
nein! Mir hätte der Angeklagte, dessen
persönliches Vertrauen ich genieße, ja Alles
eingestandcn. Und alles das erwogen, kann
und darf mein Client nicht schuldig ge-
sprochen werden. Im Gegcnthcil! Ich sehe
Ihrem Urtheil mit Ruhe entgegen."