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Marées-Gesellschaft [Hrsg.]
Ganymed: Blätter der Marées-Gesellschaft — 2.1920

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Gesammelte Worte über grosse Meister
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Meier-Graefe, Julius: Delacroix und Géricault
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https://doi.org/10.11588/diglit.44996#0057
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DELACROIX UND GERICAULT

höchst gesteigerten Belletristen. So steht Delacroix zu fast allen
Malern seiner Zeit; man könnte beinahe sagen, zu der ganzen
französischen Kunst der Neuzeit, wobei nicht vergessen werden
darf, daß Dichtung und Belletristik Grenzgebiete gemein haben.
Gericault konnte in glücklichen Bildern einen Courbet, in ge-
wissen Plastiken Daumier und Rodin Vorhersagen. Dieser seltene
Künstler hat das Aquarell mit der Montmartre-Landschaft unseres
Werkes gemalt. Seine Höhen erscheinen wie partielle Belich-
tungen, überwinden nicht ganz den Krampf angespannter Kräfte.
Seiner Gewalt fehlt die bezauberndste Gabe des Genius, mit der
Stoßkraft der Vision gleichzeitig eine Kurve zu schließen, die
das Persönliche in einem größeren Schoße auffängt. Delacroix
ist Sänger wie sein geliebter Dante. Auch das Leidenschaftlichste
wird gesungen. Gericault hat Augenblicke einer verblüffenden
Aktualität, aber sie gleichen zerrissenen Klüften, und zerrissen
ist alles, was diesem Geist folgte, Kluft oder gespreizte Flachheit.
Nur Renoir, Delacroix’ einziger Jünger in Frankreich, hat noch
einmal Gesänge, wenn auch minder heroische, gemalt. Die Lein-
wand züngelt, wenn Delacroix sie berührt. Kein Gestus reckt
sich allein, keine absonderliche Materie brandet aus dem Kreis
der Vision heraus, kein Schrei. Eine Welt züngelt feurig, in
jeder Einzelheit mit dem gleichen Puls, züngelt, lodert, flammt
und bleibt Organismus. Man vergißt die gewohnte Wirklichkeit,
darf sie vergessen, denn diese Welt aus Leinwand und Farben
hat alles, was sich in der gewohnten immer nur als Bruchstück
zeigt, ist unendlich wirklicher als die andere. Gericault zahlte
seine Steigerungen mit dem Alltag eines Akademikers. Kein
Akademiker von der Art Guerins, seines und Delacroix’ Lehrers;
auch Gros, dem er im Grunde näher als Delacroix steht, weit
überlegen. Er malte mit Empfindung, aber war nicht immer un-
abhängig genug, sie frei gewähren zu lassen, durfte sie vielleicht

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