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Marées-Gesellschaft [Hrsg.]
Ganymed: Blätter der Marées-Gesellschaft — 2.1920

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Gesammelte Worte über grosse Meister
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Meier-Graefe, Julius: Cézannes Aquarelle
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https://doi.org/10.11588/diglit.44996#0098
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C e z a n n e s Aquarelle
von
J. Mei er-Graefe

£js ist nicht Zeit für leise Worte und verschwiegene Dinge, wenn
der Beweis erbracht ist, daß die allerlautesten nicht mehr ver-
nommen werden. Es kann komisch werden, gesalbte Über-
hebung, unmenschlich und platt. Es kann Zynismus sein, von
Dingen, die dem Auge wohl tun, zu handeln, wenn die Erde
dröhnt und die Menschheit in einem Meer von Wut und Angst
erstickt. Aber es lockt unwiderstehlich, es ist das beste, was man
tun kann. Nur eine Minute ohne Blut und Schweiß, nur eine
Stelle, schmal wie das Rund um eine Linde, wo ich der Mensch-
heit ohne Scham gedenke. In die Stirnen der Knaben sind Falten
geschnitten, und die Kinder kommen mit blutigen Malen zur
Welt. Noch immer lachen sie. Nie brachte man der Freude
solche Opfer. Nie war die Sehnsucht größer. Nie stand das
Herz der Menschen jeglicher Wonne offener. Derselbe Mund,
dem soeben das Wort des Jammers erstarb, lächelt über die
Blume am Wege.
Man hat vorher wenig von diesem Menschen gewußt. Man
hat überhaupt damals vor dem Kriege, in jener grauen, längst
verschollenen und nicht guten Zeit voll seichter Worte und wol-
liger Freuden, wenig von Schönheit gewußt. Sonst hätte die
Menschheit nicht so leicht ihre Altäre zerstört. Sie hatte sie
längst verlassen oder war ihnen zu nahe gekommen, hatte Ge-
brauchsdinge, Möbel aus ihnen gemacht. Vielleicht weiß man
heute mehr. Vielleicht versteht man heute solche Menschen
besser, wo wir entsetzt unter dem entblätterten Dache einer Linde

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