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Marées-Gesellschaft [Hrsg.]
Ganymed: Blätter der Marées-Gesellschaft — 2.1920

DOI Heft:
Die Kunst nach dem Weltkrieg
DOI Artikel:
Waldmann, Emil: Unhistorische Kunsthistorie
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https://doi.org/10.11588/diglit.44996#0253
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Unhistorische Kunsthistorie

W ir pflegen zu sagen, alle große Kunst sei zeitlos. Aber in
unseren Museen tun wir immer noch so, als wüßten wir dies
nicht. Wir hängen fein säuberlich die Kunstwerke nach Perioden,
Schulen und Nationen auf, so historisch, daß wir Bilder von
Botticelli gelegentlich sogar mit Skulpturen von Rossellino
„mischen“ und in Galeriekatalogen vor noch ganz kurzer Zeit
die Trennung zwischen der Malerschule von Parma und der
von Bologna, zwischen schwäbischem und fränkischem Kunst-
kreis aufrecht erhielten. Altes und Modernes gar hätte man
am liebsten nicht einmal unter ein und demselben Dache ge-
duldet. Gemäldegalerien alter Meister planten, da sie nun ein-
mal mit der Zeit mitgegangen waren und, durch Stiftungen von
Kunstfreunden bereichert, zeitgenössische Bilder gekauft hatten,
einen Neubau für die Abteilung: „XIX. Jahrhundert“.
Dies alles wird man in einigen Jahrzehnten wahrscheinlich
gar nicht mehr verstehen. Man wird dann nicht nur begreifen,
sondern mit dem lebendigen Gefühl empfinden, daß alle große
Kunst tatsächlich zeitlos ist und daß die Kunstgeschichte nicht,
wie einmal ein Professor vor dem Examen sagte, mit dem
Jahre 1800 aufhört, sondern, wie die Kunst selber, gar nicht
aufhört, daß sie immer weiter geht, und daß alle Strömungen
und Nebenlinien auf die Länge der Zeit doch einmal einmünden
in das große Strombett, in dem die lebendigen Wasser rauschen,
ganz gleich, ob der eine Strudel romanisch heißt oder germa-
nisch, und die eine Welle barock oder klassizistisch. Wenn wir

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