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Marées-Gesellschaft [Editor]
Ganymed: Blätter der Marées-Gesellschaft — 2.1920

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Gesammelte Worte über grosse Meister
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Meier-Graefe, Julius: Cézannes Aquarelle
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https://doi.org/10.11588/diglit.44996#0099
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CßZANNE

stehen, umbrandet von Finsternissen und mit der Wachheit im
Blick, die sich auf letzten Gängen einstellt.
Denn wohl mögen wir uns heute dem Zustande nähern, in dem
der Künstler seine Gesichte erblickt. So ungestüm rafft er das
Stürzende, so leidenschaftlich klammert er sich an das Zergehende,
so atemlos belauscht er den Traum, wie wir heute mit über-
spannten Muskeln Bruchstücke der verlorenen Welt aneinander-
binden und aufcerissenen Aures in das Dunkel starren, von wo
die Zukunft kommen soll. Wohl nicht der Künstler einer anderen
Zeit, nicht der gehorsame Kämmerer froher Feste, noch der be-
häbige Bürger einer sicheren Kaste, am wenigsten die Diener
des alten Heiligtums gingen so ans Werk. Aber ein Cezanne,
keiner so wie Cezanne. So kann man ihn sich denken, als ei' in
der verquollenen Brunst einer sich selbst fremden Jugend seine
zermalmenden Bilder begann. Visionen, an denen die Angst vor
dem Gesicht mit malt. Ein Blitz erhellt erstarrte Schönheit.
Wir können uns den Anfänger so denken. Er war dabei, rang
mit dem Wirbel, schrie, ächzte, wand sich. Wie ein ums Leben
Schwimmender warf er den Brocken Eigentum ans Land. Es
kann uns erschüttern und beschwichtigen, die Qualen geäng-
stigter Menschheit in dem Prunk seiner lavaähnlichen Gebilde
des Anfangs zu ahnen. Er tauchte unter wie wir. Der erstickte
Schrei über die Zertrümmerung des Kosmos war das erste Be-
kenntnis des Künstlers. Zwei Menschenleben vor unseren Tagen
erlebte er unser Unheil.
Das hat mancher geahnt, wenn auch in keinem die Ahnung
solche Symbole entstehen ließ. Größer ist das Wunder jenes
anderen Cezanne, der sich aus dem Chaos gebar, näher der
Gottheit, von keinem Schrei der Inbrunst, des Schmerzes zer-
rissen, der Cezanne der höchstartikulierten Laute. Er begnügte
sich mit der Schönheit, und sie war kein Märchen, kein Versteck

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