Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Geymüller, Heinrich von; Geymüller, Heinrich von [Mitarb.]
Die Baukunst der Renaissance in Frankreich (1. HeftTheil 2, 6. Band, 1. Heft): Historische Darstellung der Entwickelung des Baustils — Stuttgart: Arnold Bergsträsser Verlagsbuchhandlung, 1898

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.67517#0103
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
86

87-
Zwei Haupt-
ftrömungen.

88.
Italo-antike
Strömung.

(Tafel bei S. 28) wurde gezeigt, wie diefe Stilphafen bis auf die Gegenwart drei
grofse Entwickelungsperioden von nahezu gleicher Zeitdauer bilden, die im Folgenden
als die erfte, zweite und dritte benannt werden mögen. In jeder diefer drei
Entwickelungsperioden find wieder drei verfchiedene Phafen zu finden, die man als
die frühe, die reife und die fpäte oder freie bezeichnen kann. Naturgemäfs
befteht zwifchen je zwei auf einander folgenden Phafen eine Zeit des Ueberganges,
fo wie auch zwifchen den gröfseren Abfchnitten der Entwickelung, die wir Perioden
geheifsen haben, eine folche Uebergangszeit vorhanden ift201), Wir werden fehen,
dafs feit dem Jahre 1500 in diefen Uebergangsformen von einer Phafe zur nächften
die franzöfifche Architektur dreimal, in Bezug auf Feinheit, Reife und frifches Leben,
ihre reizendften Formen erreicht hat. Es ift dies:
1) am Schlufs der Früh-Renaiffance und am Beginn der reifen Periode {Franz I.
und Heinrich IIi)\
2) am Ende des Stils Ludwig XIV. und am Beginn des Stils Ludwig XV., fo wie
3) während des Ueberganges von letzterem zum Stil Ludwig XVI.
Die erfte, zugleich eine der intereffanteften und wie es uns fcheint, bis jetzt
zu wenig beachteten Erfcheinungen in der Architektur Frankreichs feit etwa 1500
ift das Vorhandenfein zweier neben einander fliefsender Strömungen — eine Er-
fcheinung, welche fogar die Grundlage für die richtige Auffaffung der nachfolgenden
Darlegungen bilden dürfte. Die erfte derfelben kann man als die italienifch-antike, als
die neue bezeichnen; die zweite ift die Fortfetzung und Erbin der einheimifchen,
gothifchen oder gallo-germanifchen Bauweife und neigt zu einer freieren, mehr fub-
jectiven franco-flämifchen Auffaffung hin. Bisweilen glaubt man, die letztere Strömung
höre vollkommen auf; indefs zeigt fich bei näherer Betrachtung, dafs fie nur, je nach
den Zeiten, verfchiedene Formen angenommen hat, und gerade diefe Thatfache hat
wohl vielfach dazu beigetragen, das Verftändnifs für die Stilzufammengehörigkeit
zu trüben.
Das Verhalten diefer zwei Strömungen zu einander, die veränderten Gebiete,
auf denen fie zeitweife wirken, die Einflüße, die fie auf einander ausüben, die Art,
wie fie fich mit den von aufsen herkommenden Einwirkungen verbinden, das ab-
wechfelnde Ueberwiegen der einen oder anderen derfelben, das zeitweife beinahe
gänzliche Verfchwinden der einen Strömung — alle diefe Erfcheinungen dürften zu
den wichtigften Elementen in der Entwickelung der franzöfifchen Architektur ge-
hören; fie tragen zum richtigen Verftändnifs der verfchiedenen Stilphafen und ihres
wirklichen Charakters wefentlich bei. Es wird defshalb unfere Aufgabe fein, in den
verfchiedenen Entwickelungsftufen die wahrnehmbaren Anhaltspunkte feft zu ftellen,
aus denen die Continuität der beiden lebendigen Quellen der franzöfifchen Archi-
tektur feit Beginn der Renaiffance zu erkennen ift, felbft dann, wenn die eine, nur
unter dem Boden weiter riefelnd, gänzlich verloren gegangen zu fein fcheint.
Die rein italienifch-antike Richtung in diefer Strömung ift die erfte, welche
auf franzöfifchem Boden wirkliche architektonifche Denkmäler hervorbrachte, wenn
auch in kleinem Mafsftabe und bis etwa 154° in fpärlicher Weife fliefsend. Sie
beginnt mit den rein italienifchen Werken der Meifter im Dienfte des Kaufes Anjou,
201) Obwohl man ftets vor einer allmählichen Umwandelung fteht, fchien mir dies keineswegs ein Grund zu fein, um
mit Viollet-le-Duc das Syftem getrennter Stilperioden mit beftimmter Benennung, wie A. de Caumont dies für die Gothik
eingeführt hatte, zu verwerfen. Denn eben fo ficher, wie die allmähliche Umwandelüng eines Bauftils, ift die Thatfache, dafs
er der Reihe nach klar zu unterfcheidende Entwickelungsftufen mit beftimmtem Stilcharakter annimmt, die jeweilig vom
Wefen der vorhergehenden, wie der nachfolgenden Phafe in fprechendfter Form fich unterfcheiden,
 
Annotationen