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DIE MALEREI AM BODENSEE

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Marienlebens einander folgen zu lassen, ist kein allzu weiter Weg. Von hier
geht Lukas Moser aus, wenn er die Fahrt der Heiligen auf dem Wasser, da-
neben die Schläfer am Ufer unter dem Vordach des Tempels in Marseille und
endlich die letzte Stunde der Maria Magdalena viele Jahre nachher in dem
gleichen Tempel schildert, der nun zur gotischen Kathedrale wurde. Das zeit-
lose Nebeneinander in den Abschnitten eines vielteiligen Rahmens wird zum zeit-
lichen Nacheinander, sobald die trennenden Stäbe in verbindende Architektur-
glieder umgedeutet sind. Wieder wächst der Rahmen in das Bild, und die
Szenen, die er voneinander sonderte, verbinden sich zu einer Einheit in räum-
lichem Sinne, die zugleich eine zeitliche Abfolge symbolisiert.
Die Forderung der Bildgestaltung im Sinne des natürlichen Sehens, die zur
einheitlichen Raumansicht führte, bedingte auch die Einheit zeitlichen Ge-
schehens. Die mittelalterliche Kunst lebte in zeitloser Idealität und konnte
darum den Raum entbehren. Sie war nicht gebunden im flächigen Nebenein-
anderordnen einer Folge von Ereignissen. Die Konsequenz der neuen Kunst-
anschauung stand dem entgegen. Aber der Raumgedanke als solcher nimmt
so sehr das Interesse gefangen und überwuchert in dem Maße, daß die Preis-
gabe der Einheitlichkeit zeitlichen Ablaufes nicht als störend empfunden wird.
Hatte die toskanische Malerei, das Prinzip der plastischen Modellierung
des Einzelkörpers auf den gesamten Bildausschnitt übertragend, Schritt um
Schritt den Raum erobert, den sie als ein überall zusammenhängendes, gleich-
sam abtastbares Gebilde verstand, so übernahm die nordische Malerei die
neue Bildform als ein fertiges System, mit dem sie ein freies Spiel zu treiben
sich unterfing, noch ehe sie die Grundsätze plastischer Gestaltung im vollen
Ausmaße sich zu eigen gemacht hatte. Noch wirken überall die Reste mittel-
alterlicher Flächenzeichnung sichtbar nach, selbst noch in dem scheinbar so
fortschrittlichen Werke Lukas Mosers, der in einer Zeit des Übergangs schaf-
fend, einer jüngeren Generation voranschreitet, deren Werk selbstbewußt und
entschieden den Idealen der Vergangenheit Absage leisten sollte.
 
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