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DIE ENTSTEHUNG DES SCHNITZALTARS
Werkes erweisen, und ihr Stil fand weniger Verständnis und Nachahmung
als der ihres Zeitgenossen, den man den Meister von Flemalle nennt, und der
wahrscheinlich identisch ist mit dem Maler vjacques Daret. Seine schwere
plastische Form, sein Interesse für die Rundung der Körper, für die model-
lierende Wirkung der Schatten übte mächtigen Eindruck zu seiner Zeit, und
die Wirkung seiner Kunst läßt sich in der deutschen Malerei vielfach beob-
achten, wenn auch nicht jede Stilgleichung auf einen unmittelbaren Einfluß
zurückgeführt werden darf, da gleichgerichtete Entwicklung auf Grund gleicher
Voraussetzungen zu ähnlichen künstlerischen Ergebnissen führen mochte.
Stellt sich dem Rückschauenden die räumliche Grundlegung, die zu einer
Befreiung von dem Schematismus der alten Darstellungsformen führte, in das
Zentrum der künstlerischen Neubildung, so war sie dem Künstler nur eine
der Bedingungen der Bildgestaltung im Sinne vollkommener Wirklichkeits-
darstellung. Alle naturalistische Einzelbeobachtung, alle genrehaften Züge, die
aus derselben Anschauungsweise in die Mysterienbühne der Zeit Eingang
fanden und von ihr zurückwirkten auf die bildende Kunst, das Eingehen auf
Zufallserscheinungen des Lebens und das Interesse an der Statik der Körper
und dem Mechanismus eines Geschehens finden in derselben künstlerischen
Orientierung ihre Erklärung. Die alte Monumentalform wurde preisgegeben
in einem wahren Taumel wieder erwachter Wirklichkeitsfreude.
Eine neue Grundlegung des Bildaufbaus war angebahnt. Richtete sich unter
dem Einfluß der burgundischen Miniaturmalerei das Interesse auf die große Ge-
samtanlage, so muß nun die Sorge um einen weiträumigen Grundriß zurück-
treten, weil die Durchbildung der Einzelform in den Vordergrund rückt.
Vom Körper aus, nicht von den räumlichen Beziehungen, die ein Geschehen
veranschaulichen, werden die alten Bildvorwürfe neu gestaltet. Wie die Körper
im Raume sich runden, wird klargestellt. Ihre gegenseitigen Beziehungen
werden gemessen, die Glieder in Aktion versetzt. Das Stehen, das Sitzen, das
Liegen wird zum Darstellungsproblem. Der Raum aber findet Interesse, nur
insoweit er notwendig ist als unmittelbare Umgebung der Gestalten, die nicht
mehr in der Fläche schweben, sondern als Rundgebilde von einer Luftschicht
umgeben sind. Die räumliche Existenz ist nicht das erste Postulat der Dar-
stellung, ein kastenartig enger Hohlraum legt sich nachträglich um die Figuren,
wie der Schrein um die vollrunde Statue. Auch dieser Anschauungsform konnte
das alte, lineare Schema nicht genügen. Auch die Meister, die im vierten
und fünften Jahrzehnt die entscheidenden Taten vollbrachten, waren schöpfe-
rische Naturen, die ein Neuland entdeckten. Aber ihre Erfindung arbeitete
DIE ENTSTEHUNG DES SCHNITZALTARS
Werkes erweisen, und ihr Stil fand weniger Verständnis und Nachahmung
als der ihres Zeitgenossen, den man den Meister von Flemalle nennt, und der
wahrscheinlich identisch ist mit dem Maler vjacques Daret. Seine schwere
plastische Form, sein Interesse für die Rundung der Körper, für die model-
lierende Wirkung der Schatten übte mächtigen Eindruck zu seiner Zeit, und
die Wirkung seiner Kunst läßt sich in der deutschen Malerei vielfach beob-
achten, wenn auch nicht jede Stilgleichung auf einen unmittelbaren Einfluß
zurückgeführt werden darf, da gleichgerichtete Entwicklung auf Grund gleicher
Voraussetzungen zu ähnlichen künstlerischen Ergebnissen führen mochte.
Stellt sich dem Rückschauenden die räumliche Grundlegung, die zu einer
Befreiung von dem Schematismus der alten Darstellungsformen führte, in das
Zentrum der künstlerischen Neubildung, so war sie dem Künstler nur eine
der Bedingungen der Bildgestaltung im Sinne vollkommener Wirklichkeits-
darstellung. Alle naturalistische Einzelbeobachtung, alle genrehaften Züge, die
aus derselben Anschauungsweise in die Mysterienbühne der Zeit Eingang
fanden und von ihr zurückwirkten auf die bildende Kunst, das Eingehen auf
Zufallserscheinungen des Lebens und das Interesse an der Statik der Körper
und dem Mechanismus eines Geschehens finden in derselben künstlerischen
Orientierung ihre Erklärung. Die alte Monumentalform wurde preisgegeben
in einem wahren Taumel wieder erwachter Wirklichkeitsfreude.
Eine neue Grundlegung des Bildaufbaus war angebahnt. Richtete sich unter
dem Einfluß der burgundischen Miniaturmalerei das Interesse auf die große Ge-
samtanlage, so muß nun die Sorge um einen weiträumigen Grundriß zurück-
treten, weil die Durchbildung der Einzelform in den Vordergrund rückt.
Vom Körper aus, nicht von den räumlichen Beziehungen, die ein Geschehen
veranschaulichen, werden die alten Bildvorwürfe neu gestaltet. Wie die Körper
im Raume sich runden, wird klargestellt. Ihre gegenseitigen Beziehungen
werden gemessen, die Glieder in Aktion versetzt. Das Stehen, das Sitzen, das
Liegen wird zum Darstellungsproblem. Der Raum aber findet Interesse, nur
insoweit er notwendig ist als unmittelbare Umgebung der Gestalten, die nicht
mehr in der Fläche schweben, sondern als Rundgebilde von einer Luftschicht
umgeben sind. Die räumliche Existenz ist nicht das erste Postulat der Dar-
stellung, ein kastenartig enger Hohlraum legt sich nachträglich um die Figuren,
wie der Schrein um die vollrunde Statue. Auch dieser Anschauungsform konnte
das alte, lineare Schema nicht genügen. Auch die Meister, die im vierten
und fünften Jahrzehnt die entscheidenden Taten vollbrachten, waren schöpfe-
rische Naturen, die ein Neuland entdeckten. Aber ihre Erfindung arbeitete