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DER NIEDERLÄNDISCHE EINFLUSS
Rogiers Beispiel dankte die deutsche Malerei das Verständnis für die räumliche
Entwicklung eines Geschehens, für die freie Beweglichkeit der Figur, die
rhythmische Fügung der Gruppen in immer lockerer werdender Bindung. In den
Niederlanden zuerst hatte die neue Bildform, die das alte Idealschema gotischer
Flächenkunst endgültig verdrängen sollte, ihre Verwirklichung gefunden. Hier
war der Entdeckung des Körpers die Bewältigung des Raumes gefolgt, war
der altertümlich statuarische Charakter endgültig verlassen worden. Willig
und rasch folgte die deutsche Malerei. Eine neue Kunst hielt nach der Jahr-
hundertmitte ihren Einzug in allen Malerwerkstätten deutscher Lande. Auf
die Generation des Konrad Witz ist ein anderes Geschlecht gefolgt. Die
Proportionen der Gestalten haben sich gewandelt. Die untersetzten Menschen,
die breitbeinig, schwerfällig standen, sind schlank emporgewachsen, und ihre
Gliedmaßen bewegen sich leicht. Wo früher verhaltene Kraft sich gleichsam
gegen unsichtbare Fesseln stemmte, da herrscht nun ein zierliches Gehaben.
Die Bewegungen, die hart zu stocken schienen, werden leichter und flüssiger,
gewinnen Sprungkraft und Elastizität. Das stille Beieinander statuarischer
Figuren löst sich in eilige Beweglichkeit, und wenn ehedem nur schwer die
Gelenke sich bogen, so. kann es nun nicht genug sein an kontrastierendem
Einwärts und Auswärts der schlanken Glieder. Es ist eine andere Form der
Geste als die alte gotische Manier geschmeidiger Schwingung, wie sie noch in
den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts in Übung gewesen war. Ganze
Gliedmaßen oder der Körper selbst wurden damals einer einheitlichen, aus-
druckgesättigten Kurve eingeschrieben. Nun sind die Gelenke in ihrer Funktion
erkannt, und die Künstler überbieten einander in scharfen Drehungen und
winkligem Knicken der Arme und Beine. Die Bewegung der einzelnen Gestalt
bleibt als solche nicht isoliert, sie greift von der Figur über auf die Gruppe,
deren Teile in wechselnden Beziehungen einander tragen und ergänzen. Das
Verständnis für die räumliche Funktion des Körpers weitet sich auf seine
nähere Umgebung und wirkt sich im Freiraum der Landschaft ebenso aus
wie in den umschließenden Gliedern der Architektur. Ein linearer Rhythmus
bindet wieder die Formen, aber er vollendet sich nicht mehr wie einst in der
reinen Fläche, sondern schwingt hinüber in die dritte Dimension. Die Figur
rückt von der Vorderfläche in die Raumtiefe. Die Komposition wird viel-
gliedriger und reicher, die Gestalten nehmen Bezug aufeinander, nicht mehr
indem sich ihre Konturen allein in schönen Kurven begegnen, sondern in einem
lebhaften Auf und Ab im Raume.
Galt dasBemühen der vorangehenden Generation dem Mechanismus einer Figur,.
DER NIEDERLÄNDISCHE EINFLUSS
Rogiers Beispiel dankte die deutsche Malerei das Verständnis für die räumliche
Entwicklung eines Geschehens, für die freie Beweglichkeit der Figur, die
rhythmische Fügung der Gruppen in immer lockerer werdender Bindung. In den
Niederlanden zuerst hatte die neue Bildform, die das alte Idealschema gotischer
Flächenkunst endgültig verdrängen sollte, ihre Verwirklichung gefunden. Hier
war der Entdeckung des Körpers die Bewältigung des Raumes gefolgt, war
der altertümlich statuarische Charakter endgültig verlassen worden. Willig
und rasch folgte die deutsche Malerei. Eine neue Kunst hielt nach der Jahr-
hundertmitte ihren Einzug in allen Malerwerkstätten deutscher Lande. Auf
die Generation des Konrad Witz ist ein anderes Geschlecht gefolgt. Die
Proportionen der Gestalten haben sich gewandelt. Die untersetzten Menschen,
die breitbeinig, schwerfällig standen, sind schlank emporgewachsen, und ihre
Gliedmaßen bewegen sich leicht. Wo früher verhaltene Kraft sich gleichsam
gegen unsichtbare Fesseln stemmte, da herrscht nun ein zierliches Gehaben.
Die Bewegungen, die hart zu stocken schienen, werden leichter und flüssiger,
gewinnen Sprungkraft und Elastizität. Das stille Beieinander statuarischer
Figuren löst sich in eilige Beweglichkeit, und wenn ehedem nur schwer die
Gelenke sich bogen, so. kann es nun nicht genug sein an kontrastierendem
Einwärts und Auswärts der schlanken Glieder. Es ist eine andere Form der
Geste als die alte gotische Manier geschmeidiger Schwingung, wie sie noch in
den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts in Übung gewesen war. Ganze
Gliedmaßen oder der Körper selbst wurden damals einer einheitlichen, aus-
druckgesättigten Kurve eingeschrieben. Nun sind die Gelenke in ihrer Funktion
erkannt, und die Künstler überbieten einander in scharfen Drehungen und
winkligem Knicken der Arme und Beine. Die Bewegung der einzelnen Gestalt
bleibt als solche nicht isoliert, sie greift von der Figur über auf die Gruppe,
deren Teile in wechselnden Beziehungen einander tragen und ergänzen. Das
Verständnis für die räumliche Funktion des Körpers weitet sich auf seine
nähere Umgebung und wirkt sich im Freiraum der Landschaft ebenso aus
wie in den umschließenden Gliedern der Architektur. Ein linearer Rhythmus
bindet wieder die Formen, aber er vollendet sich nicht mehr wie einst in der
reinen Fläche, sondern schwingt hinüber in die dritte Dimension. Die Figur
rückt von der Vorderfläche in die Raumtiefe. Die Komposition wird viel-
gliedriger und reicher, die Gestalten nehmen Bezug aufeinander, nicht mehr
indem sich ihre Konturen allein in schönen Kurven begegnen, sondern in einem
lebhaften Auf und Ab im Raume.
Galt dasBemühen der vorangehenden Generation dem Mechanismus einer Figur,.