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DAS SPÄTGOTISCHE BAROCK
Malerei. Der Deutsche trug immer die
Sehnsucht nach der maßvollen Schönheit
klassischer Kunst im Herzen, aber sei-
nem eigenen Temperamente lag es näher,
ein Gefühl ungehemmt ausströmen zu
lassen. So führte die Lockerung des
Bildgefüges, für die ebenfalls Rogier das
Zeichen gegeben hatte, zu einer Lösung
aller Bindungen. Wie ein entfesselter
Strom über seine Ufer tritt, wie Pflanzen,
die des Gärtners Schere nicht meistert,
wild emporwuchern, so sprengt ein maß-
loser Wirbel der Bewegung das Gefäß
der überlieferten Kompositionen, die
Figuren stoßen und überschneiden sich
im Raume, ihre Glieder biegen sich in
kühnen Verrenkungen, ihre Körper sind
wie in Schraubenwindungen gedreht,
und in hin und wider fahrenden Rich-
tungen wird die einfach gemessene Bild-
form der alten Zeit endgültig zertrüm-
mert (Abb. 138 und 139).
Bis zu der Stufe, auf die eine voran-
gehende Generation die deutsche Malerei
geführt hatte, ließ sich die Entwicklung
wesentlich unter dem Gesichtspunkt
einer konsequenten Ausbildung der Mit-
tel naturalistischer Darstellung begreifen. Der nächste Schritt führt ab von dem
Streben nach Formbeherrschung und Bildklärung, die einer wissenschaftlichen
Interpretation leicht zum Idealziel künstlerischer Weiterbildung wird. Die
rationelle Erklärung versagt, wenn das Kunstmittel sich gleichsam verselb-
ständigt, und die Abweichung von der Natur aufgesucht wird, einem eigenen
Formenideal oder Gefühlsausdruck zuliebe.
Die Entwicklung des Gewandes ist hierfür symptomatisch. Man spricht gern
von dem Holzschnitzstil spätgotischer Malerei. Das Wort gibt anstatt einer
Deutung kaum eine Benennung des Phänomens. Immer bewegte sich die Stil-
bildung der malerischen und plastischen Ausdrucksformen in parallelen Bahnen.
Abb. 138 Veit Stoß. Flügel des Kiliansaltars
in Münnerstadt
DAS SPÄTGOTISCHE BAROCK
Malerei. Der Deutsche trug immer die
Sehnsucht nach der maßvollen Schönheit
klassischer Kunst im Herzen, aber sei-
nem eigenen Temperamente lag es näher,
ein Gefühl ungehemmt ausströmen zu
lassen. So führte die Lockerung des
Bildgefüges, für die ebenfalls Rogier das
Zeichen gegeben hatte, zu einer Lösung
aller Bindungen. Wie ein entfesselter
Strom über seine Ufer tritt, wie Pflanzen,
die des Gärtners Schere nicht meistert,
wild emporwuchern, so sprengt ein maß-
loser Wirbel der Bewegung das Gefäß
der überlieferten Kompositionen, die
Figuren stoßen und überschneiden sich
im Raume, ihre Glieder biegen sich in
kühnen Verrenkungen, ihre Körper sind
wie in Schraubenwindungen gedreht,
und in hin und wider fahrenden Rich-
tungen wird die einfach gemessene Bild-
form der alten Zeit endgültig zertrüm-
mert (Abb. 138 und 139).
Bis zu der Stufe, auf die eine voran-
gehende Generation die deutsche Malerei
geführt hatte, ließ sich die Entwicklung
wesentlich unter dem Gesichtspunkt
einer konsequenten Ausbildung der Mit-
tel naturalistischer Darstellung begreifen. Der nächste Schritt führt ab von dem
Streben nach Formbeherrschung und Bildklärung, die einer wissenschaftlichen
Interpretation leicht zum Idealziel künstlerischer Weiterbildung wird. Die
rationelle Erklärung versagt, wenn das Kunstmittel sich gleichsam verselb-
ständigt, und die Abweichung von der Natur aufgesucht wird, einem eigenen
Formenideal oder Gefühlsausdruck zuliebe.
Die Entwicklung des Gewandes ist hierfür symptomatisch. Man spricht gern
von dem Holzschnitzstil spätgotischer Malerei. Das Wort gibt anstatt einer
Deutung kaum eine Benennung des Phänomens. Immer bewegte sich die Stil-
bildung der malerischen und plastischen Ausdrucksformen in parallelen Bahnen.
Abb. 138 Veit Stoß. Flügel des Kiliansaltars
in Münnerstadt