Deutung
Kaiser Herakims — die Legende geht auf eine frühe byzantinische Vorlage zurück —
zeigt gewisse Verwandtschaft mit den bekannten Behängen in der Kathedrale La Seo
zu Zaragoza. Die kleine Schrift Manuel Abizandas befaßt sich ausführlicher mit den
prächtigen Teppichen (57).
Dramatisch bewegt schildert ein Fragment in der Kathedrale zu Bourges, „La trans-
lation de Möns. Set. Estienne", die Überführung der Reliquien des ersten christlichen
Märtyrers, nach Konstantinopel. Die Schiffsszene spielt sich an der Küste von Calcedo
ab: „Comet la nef sait Eteve fit ecal pres Calecide plvsevrs malade fvrent gueris."
Der Bildteppich weist das Wappenschild des Kanonikus Pierre de Crosses auf, des
Stifters (1466) der einst stattlichen Folge von sechs Behängen.
Die Historien Judiths und Esthers werden in den Bildteppichen ganz in der Art der
„Chansons de geste" behandelt. Die Hauptpersonen erscheinen als Hofdamen, so Judith
in dem prächtigen Teppich, der 1901 in der Auktion Somzee zum Vorscheine kam —
gegenwärtig im Brüsseler Cinquantenairemuseum —, so Esther in den bekannten frühen
Brüsseler Fragmenten. Die Holofernestapisserie in dem adeligen Benediktiner-Frauen-
Stift Nonnberg zu Salzburg verdient Erwähnung als charakteristisches Beispiel. Vor
dem reich dekorierten Zelte steht Judith im Brokatgewand, mit hohem burgundischen
Hennin; die Dienerin, auf dem Haupte eine riesige Hörnerhaube, hält ihr den ominösen
Sack entgegen. Der Rumpf des getöteten Feldherrn lehnt, fast sitzend, gegen hoch-
gehäufte Kissen, hinter denen sich ein reicher Goldbrokat spannt. Rechts und links
patrouillieren Bewaffnete; im Hintergrunde erhebt sich eine mittelalterliche Stadt.
Mit Darstellungen aus der Schrift werden nicht selten die Sibyllen, die heidnischen
Verkünderinnen des Erlösers, in Verbindung gebracht. Die wesentlichste Quelle stellen
die Schriften des Vinzenz von Beauvais dar, der sich wiederum auf Lactantius,
St. Augustin, Isidor von Sevilla und andere Kirchenväter stützt, Sibyllenfolgen finden
sich des öfteren in Inventaren aus der zweiten Hälfte des 15. Säkulums; das Motiv
erreicht im darauffolgenden Jahrhundert besondere Beliebtheit durch die Drucke der
„Heures de Simon Vostre ä l'usage du diocese de Chartres" und des «Mystere du Viel
Testament", das die zehn bzw. zwölf Sibyllen in volkstümlichen Holzschnitten der
Allgemeinheit zugänglich macht. Kürzlich tauchte im Berliner Kunsthandel (Altkunst
G. m. b. H.) das Fragment einer um 1515 entstandenen Sibyllenfolge auf (Abb. 53).
Es stellt, in Anlehnung an die Heldenteppiche, jede Sibylle einzeln unter einem Bal-
dachin dar, in der Hand das ihr zustehende Attribut, zu Häupten das Schriftband mit
dem erklärenden französischen Text, der die Prophezeiimg der betreffenden Sibylle
bringt und das Lebensalter der sagenhaften Frau zur Zeit der Weissagung angibt.
Einzelheiten über die Entstehung des eigenartigen Motivs führen zu weit (58). Zur
Deutung der hie und da auftauchenden Sibyllenteppiche dürften die Namen, Attribute
und Spruchbänder genügen, die den „Heures de Louis de Laval" entlehnt sind (59).
In Gestalt von Teilszenen finden sich Motive aus dem Sibyllenkreise verhältnismäßig
häufig in Wirkteppichen des beginnenden 16. Jahrhunderts. Die charakteristische
Episode der tiburtinischen Sibylle — auf der Höhe des Kapitols erblickt Kaiser Augustus
in den Wolken die Madonna mit dem göttlichen Kinde: „haec est ara coeli" — bringt
u. a. der berühmte Morganteppich und die Version in den Brüsseler Musöes du Cin-
quantenaire (Abb. 54, 55, 119).
Die naheliegende Gegenüberstellung der zwölf Sibyllen mit den zwölf Propheten,
die sich mehrfach bei Werken der bildenden und angewandten Kunst feststellen läßt,
ist mir bei Wirkteppichen bislang nicht begegnet; ebensowenig die dreifache Kombi-
nation der zwölf Sibyllen, der zwölf Propheten und der zwölf Apostel.
Das Leben des Heilands und der Madonna ist in einer Unzahl mehr oder weniger
reicher Folgen dargestellt; die eingehende ikonographische Behandlung würde not-
gedrungen zu Wiederholungen führen; die vorhandene Literatur genügt als Leitfaden.
Besondere Eigenarten in der Auffassung werden bei Besprechung der in Frage kom-
menden Bildteppiche berücksichtigt.
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Kaiser Herakims — die Legende geht auf eine frühe byzantinische Vorlage zurück —
zeigt gewisse Verwandtschaft mit den bekannten Behängen in der Kathedrale La Seo
zu Zaragoza. Die kleine Schrift Manuel Abizandas befaßt sich ausführlicher mit den
prächtigen Teppichen (57).
Dramatisch bewegt schildert ein Fragment in der Kathedrale zu Bourges, „La trans-
lation de Möns. Set. Estienne", die Überführung der Reliquien des ersten christlichen
Märtyrers, nach Konstantinopel. Die Schiffsszene spielt sich an der Küste von Calcedo
ab: „Comet la nef sait Eteve fit ecal pres Calecide plvsevrs malade fvrent gueris."
Der Bildteppich weist das Wappenschild des Kanonikus Pierre de Crosses auf, des
Stifters (1466) der einst stattlichen Folge von sechs Behängen.
Die Historien Judiths und Esthers werden in den Bildteppichen ganz in der Art der
„Chansons de geste" behandelt. Die Hauptpersonen erscheinen als Hofdamen, so Judith
in dem prächtigen Teppich, der 1901 in der Auktion Somzee zum Vorscheine kam —
gegenwärtig im Brüsseler Cinquantenairemuseum —, so Esther in den bekannten frühen
Brüsseler Fragmenten. Die Holofernestapisserie in dem adeligen Benediktiner-Frauen-
Stift Nonnberg zu Salzburg verdient Erwähnung als charakteristisches Beispiel. Vor
dem reich dekorierten Zelte steht Judith im Brokatgewand, mit hohem burgundischen
Hennin; die Dienerin, auf dem Haupte eine riesige Hörnerhaube, hält ihr den ominösen
Sack entgegen. Der Rumpf des getöteten Feldherrn lehnt, fast sitzend, gegen hoch-
gehäufte Kissen, hinter denen sich ein reicher Goldbrokat spannt. Rechts und links
patrouillieren Bewaffnete; im Hintergrunde erhebt sich eine mittelalterliche Stadt.
Mit Darstellungen aus der Schrift werden nicht selten die Sibyllen, die heidnischen
Verkünderinnen des Erlösers, in Verbindung gebracht. Die wesentlichste Quelle stellen
die Schriften des Vinzenz von Beauvais dar, der sich wiederum auf Lactantius,
St. Augustin, Isidor von Sevilla und andere Kirchenväter stützt, Sibyllenfolgen finden
sich des öfteren in Inventaren aus der zweiten Hälfte des 15. Säkulums; das Motiv
erreicht im darauffolgenden Jahrhundert besondere Beliebtheit durch die Drucke der
„Heures de Simon Vostre ä l'usage du diocese de Chartres" und des «Mystere du Viel
Testament", das die zehn bzw. zwölf Sibyllen in volkstümlichen Holzschnitten der
Allgemeinheit zugänglich macht. Kürzlich tauchte im Berliner Kunsthandel (Altkunst
G. m. b. H.) das Fragment einer um 1515 entstandenen Sibyllenfolge auf (Abb. 53).
Es stellt, in Anlehnung an die Heldenteppiche, jede Sibylle einzeln unter einem Bal-
dachin dar, in der Hand das ihr zustehende Attribut, zu Häupten das Schriftband mit
dem erklärenden französischen Text, der die Prophezeiimg der betreffenden Sibylle
bringt und das Lebensalter der sagenhaften Frau zur Zeit der Weissagung angibt.
Einzelheiten über die Entstehung des eigenartigen Motivs führen zu weit (58). Zur
Deutung der hie und da auftauchenden Sibyllenteppiche dürften die Namen, Attribute
und Spruchbänder genügen, die den „Heures de Louis de Laval" entlehnt sind (59).
In Gestalt von Teilszenen finden sich Motive aus dem Sibyllenkreise verhältnismäßig
häufig in Wirkteppichen des beginnenden 16. Jahrhunderts. Die charakteristische
Episode der tiburtinischen Sibylle — auf der Höhe des Kapitols erblickt Kaiser Augustus
in den Wolken die Madonna mit dem göttlichen Kinde: „haec est ara coeli" — bringt
u. a. der berühmte Morganteppich und die Version in den Brüsseler Musöes du Cin-
quantenaire (Abb. 54, 55, 119).
Die naheliegende Gegenüberstellung der zwölf Sibyllen mit den zwölf Propheten,
die sich mehrfach bei Werken der bildenden und angewandten Kunst feststellen läßt,
ist mir bei Wirkteppichen bislang nicht begegnet; ebensowenig die dreifache Kombi-
nation der zwölf Sibyllen, der zwölf Propheten und der zwölf Apostel.
Das Leben des Heilands und der Madonna ist in einer Unzahl mehr oder weniger
reicher Folgen dargestellt; die eingehende ikonographische Behandlung würde not-
gedrungen zu Wiederholungen führen; die vorhandene Literatur genügt als Leitfaden.
Besondere Eigenarten in der Auffassung werden bei Besprechung der in Frage kom-
menden Bildteppiche berücksichtigt.
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