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Deutung

bolen wird ängstlich vermieden. Romano will antik sein; die Kostümierung nach dem
damals herrschenden Zeitgeschmacke, die Mode „allafrancese" erscheint ihm unwürdig
und verlogen. Es wäre falsch, dem Künstler aus seinem Streben einen Vorwurf
machen zu wollen. Meister Giulio lebt unter italienischer Sonne, in einem Lande, in
dem der Literat allmächtig ist, in dem der geistige Entwurf zu einer Teppichfolge
oder einem Gemäldezyklus mehr oder mindestens ebensoviel gilt wie die malerische
Durcharbeitung, von der Tätigkeit des Wirkers ganz zu schweigen.

Die Vorschriften der zeitgenössischen Dramen, Moralitäten und Eklogen illustrieren
zur Genüge Stimmung und Auffassung. Bei den pastoralen Spielen, um ein Beispiel
herauszugreifen, wird auf das genaueste die Tracht vorgeschrieben. Die Darsteller
sollen Arme und Beine in fleischfarbene Trikots hüllen; sofern der Darsteller jung
und wohlgewachsen ist, kann er dieser Kleidungsstücke auch entraten. Wesentlich
sind ferner die dem Charakter des Stückes angepaßten Perrücken und die Wahl
des Obergewandes. Noch schärfer geht der Autor in hochdramatischen oder gar
tragischen Stücken ins Gericht. Das Streben „echt" zu wirken, die Zeiten Arkadiens
in neuer Schönheit erstehen zu lassen, wird bitter ernst genommen; von Spielerei ist
keine Rede. Der jahrzehntelange Kampf der gothisch dekorativen Richtung, die sich
in der flämischen Bildwirkerei verkörpert und in erster Linie von der van Roome-
Orleygruppe ausgefochten wird, die den Raffaelschen Taten der Apostel, dem Proto-
typ neuantiker Weltanschauung, den schärfsten Widerstand entgegensetzt, erklärt sich
nicht aus künstlerischen Gründen allein; feindliche Weltanschauungen stehen einander
gegenüber. Die Renaissance Italiens hat nie im Norden das wahre Verständnis gefunden.

Dem sonnigen Süden leben die alten Götter als gütige Naturkräfte auch unter der
Herrschaft des Christengottes. Die italienische Renaissance verschmilzt den kirchlichen
Glauben mit heidnischen Anschauungen zu einem sinnenfrohen, bunt funkelnden Bilde.
Die Schönheit der Antike wirkt im Norden wie ein Fremdkörper, wie ein Etwas,
dem man nur mit gewissem Mißtrauen entgegentritt. Der Olymp ist dem Deut-
schen, dem Flamen oder Nordfranzosen keine heiter harmlose Götterversammlung,
kein leichtlebiges, erotisch angehauchtes Völkchen. Frau Venus ist nicht die Ver-
körperung alles Schönen, sie wird zur Sendbotin des bösen Prinzipes, zur Verderberin,
zur Hexe. Die Unbefangenheit gegenüber dem italienischen Schönheitsideal — zumal,
wenn es sich um die Darstellung des Nackten handelt — ist allzu oft zu missen.

Die schöngeistigen Gespräche gelegentlich der Betrachtung eines Kunstwerkes am
Hofe des Magnifico, im Kreise des Medizeerpapstes Leo X. oder in einem der führenden
Salons von Venedig sind literarisch genügend gewürdigt und bekannt. Mit welchen
Augen betrachtet der Höfling diesseits der Alpen die Gestalten der Neuantike?

Ein Beispiel genügt. Der geistreiche, oft allzu boshafte Peter de Bourdeille, Herr
von Brantöme, erzählt seinen Freunden das eigenartige Zwiegespräch zweier Hofdamen
angesichts einer reichgewirkten Bildteppichfolge mit der Geschichte Dianens. Die Be-
hänge stellen, dem modernen Geschmacke entsprechend, die Göttin der Jagd und ihre
Begleiterinnen in reichlich luftigen Gewändern dar. Beide Damen betrachten auf-
merksam das Kunstwerk; die eine der Holden ist von hohem Wüchse, die andere
mehr in die Breite geraten. «Nun, Kleine", beginnt die Schlankere die stilkritische
Untersuchung, „wenn wir uns auch so anzögen, würden Sie sehr dabei verlieren,
denn Ihre Schuhe sind viel zu plump. Ihre Beine und Ihr Gang würden nicht so an-
mutig sein wie bei uns hochgewachsenen Frauen." Die Diskussion über die Waden
der Freundin spinnt sich fort und endet nicht gerade liebevoll: «Ihre Beine mit den
Absatzschuhen von einem Fuß Höhe gleichen mehr einer Keule. Wenn jemand sich
schlagen wollte und hätte keine Waffe zur Hand, so brauchte er nur Ihr Bein zu
nehmen, damit könnte er tüchtig losschlagen" (108).

Die beiden Damen verkörpern selbstverständlich nicht die geistig führende Schicht
des damaligen Frankreich'; immerhin illustriert die Episode zur Genüge die Gedanken-
losigkeit und Gleichgültigkeit der sogenannten Gebildeten gegenüber Schöpfungen im
Geiste der Antike,

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