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Endlich folgt dieser selbst (Taf. 5). Wie uns schon bei dem
letztgenannten Werke die starke Hüftenbiegung der Gestalten auffällt,
so tritt uns hier noch deutlicher der Einfluss der gothischen Archi-
tectur auf die figürlichen Darstellungen entgegen. Die Mitte und
die Innenseiten der Flügel enthalten ausser einem Crucifixus mit
Maria und Johannes 44 ganze und 20 Halbfiguren, die Predella
ausser der Verkündigung 10 sitzende Gestalten. Oben und
unten gleichmässig breite Gesichter wie bei den entsprechenden
Malereien, stark ausgebogene Hüften und gekünstelte, oft verschrobene
Armstellungen, Gewänder, welche abwechselnd in ganz straffen
Falten in horizontaler Richtung über Brust oder Leib gespannt sind
und dann wieder streng vertical fallen, wobei einzelne Theile sich
ganz glatt an den Körper anlegen, andere Bündel von engen,
geraden, parallelen Falten bilden, sind die characteristischen Merk-
male dieser Figuren, die allerdings deutlich genug das Bestreben
zeigen, durch einen Wechsel in der Bewegung der geradlinigen Ein-
theilung des Schreines entgegenzuwirken. Doch dieser Einfluss geht
in Lübeck nicht sehr weit; zwar können wir ihn seit dieser Zeit
durch das ganze 1,5. Jahrhundert verfolgen, doch immer nur bei
rein statuarischen Einzelfiguren, und sobald eine Handlung darge-
stellt wird, sehen wir vom Beginn des 15. Jahrhunderts an das
Streben nach Natürlichkeit und nach einem für sich abgeschlossenen
Ganzen hervortreten, wie bei dem gleich zu besprechenden Hoch-
altar der Marienkirche.

Dadurch, dass die Gothik erst spät in diese Gegend eindrang
und dass sie überhaupt nie Werke hervorbrachte wie der Westen
und Süden Deutschlands, dass die Augen der Bewohner nicht durch
das feine steinerne Streben- und Fialenwerk, das eomplicirte Mass-
werk erfreut wurden, und der Ziegelbau ein kräftiges massiges Mauer-
werk stets bewahrte, sich nicht in Stützen und Streben zu concen-
triren schien, durch alles dieses hatte die Gothik in der Phantasie
des Volkes durchaus nicht den Platz eingenommen, wie in vielen
anderen deutschen Landschaften. Dies kam der Plastik vielleicht
zu Gute; jedenfalls spiegelt es sich deutlich ab in der grossen Zahl
der geschnitzten Altarschreine. So befindet sich nicht an einem
einzigen der etwa 30 erhaltenen Werke dieser Art eine Bekrönung
durch emporsteigendes Streben- oder Rankenwerk, weder rein orna-
mental noch mit Figuren durchsetzt, wie es sonst so häufig vor-
kommt; sie sind sämmtlich nach oben in gerader horizontaler Linie
abgeschlossen, höchstens noch mit einer niedrigen Balustrade von
Kreuzblättern versehen,1) und nur ganz wenige späte Werke aus dem
16. Jahrhundert ändern im Anschluss an niederländische Arbeiten
die gerade in eine Wellenlinie oder ilachen Eselsrücken; auch sind
die architektonischen Umrahmungen der einzelnen Darstellungen
niemals belebt durch kleine Nebenscenen, wie die Schnitzaltäre des
Westens es den Thürlaibungen der gothischen Kirchen entlehnen.
Natürlich werden für die Baldachine und die Trennungen der ein-
zelnen Felder gothische Formen verwandt, doch behält neben dem
Spitzbogen der Rundbogen fast immer seine Bedeutung, und ein
verhältnissmässig grosser Nachdruck wird auf die horizontalen
Zwischenglieder gelegt, sowohl beim Strebenwerk der Baldachine
als auch in Gestalt von breiten Masswerkfriesen und horizontalen
plastischen oder gemalten Ornamentbändern.

Gleich bei dem ältesten, dem Grabower Altare, sehen wir an
den Baldachinen, dass der angewandte Eselsrücken nicht aus dem

*) Der hohe Rankenaufsatz auf dem Prenzlauer Altare aus Lübeck von
1512 ist wohl kaum als Widerspruch zu bezeichnen, da er mit dem oben dach
abgeschlossenen Schreine in durchaus keinem organischen Zusammenhange steht.

Spitzbogen hervorgeht, sondern aus dem Rundbogen besteht, dem
nur eine Filiale aufgesetzt ist. Dasselbe auch bei dem Hochaltäre
der Marienkirche (Taf. 6) von 1415 — 1425 in der unteren Reihe
und bei dem Neustädter Altare von 1435 in Schwerin (Taf. 7).

Noch andere Merkmale hat diese Gruppe gemeinsam, die sie
von den Werken aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts unter-
scheiden. Es ist erstens mehr Nachdruck auf die Baldachine gelegt,
dieselben sind feiner und sorgsamer ausgearbeitet, auch höher als
die späteren, denn sie bestehen stets aus zwei Stockwerken, während
diese sich meist mit einem begnügen. Die Bogenlaibttngen zeigen
reichere Profile, die Kreuzblätter sind im Verhältnisse kleiner und
verdecken nicht so viel von dem Gitterwerk, welches daher haupt-
sächlich zum Character des Baidachines beiträgt, besonders, da es
auch enger gearbeitet ist als bei den jüngeren. Endlich ist der
Grund des Schreines hinter den Sculpturen einfach vergoldet, nie
•finden sich vor der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die später
so reich eingepressten Brokatmuster, sondern höchstens feine, mit
einer Nadel punktirte, kaum sichtbare Ranken oder in Reihen
geordnete kleine Kreise.

Was das Figürliche anbetrifft, so sind, wie schon erwähnt,
Einzelfiguren und Scenen zu trennen ; daher steht auch der Neustädter
Altar von 1435 (Taf. 7) dem Grabower Altar von 1379 in Falten-
wurf und Haltung näher als der dazwischen liegende Hochaltar der
Marienkirche von 1415/25, denn jener enthält wie der Grabower
einzelne Heilige und Halbfiguren, Christus und Maria als Fürbitterin
im Mittelpunkt, dieser aber bietet uns in den Innenseiten der Flügel,
welche allein erhalten sind, nur Handlungen, und zwar 18 Dar-
stellungen aus dem Leben der Maria und Christi (Taf. (i) '). Hier
finden wir daher auch in keiner Weise Figuren mit ausgebogener
Hüfte oder verdrehtem Kopfe, auch im Faltenwurfe nicht die schroffe
Abwechselung, dagegen in der Darstellung eine Reihe von Zügen,
welche deutlich beweisen, dass der Meister versucht hat, die Scene
nachzuempfinden und durch characteristische Momente dem Beschauer
näher zu rücken. So kostet bei der Geburt der Maria die Dienerin erst
selbst die Speise mit einem Löffel, ehe sie dieselbe der Wöchnerin
reicht, ein Zug, der ähnlich auf den Malereien des Neustädtcr Altars
von 1435 wiederkehrt, so ist es auch ganz individuell dargestellt, wie
die Jungfrau Maria mit anderen Mädchen zusammen Unterricht erhält,
und wie der kleine Jesusknabe seine Hände lebhaft nach dem vor
ihm knieenden Könige ausstreckt. Daneben herrscht ebenso wie bei
den entsprechenden Gemälden das Streben, durch schlanke Gestalten
und weiche Gesichter die Figuren anmuthig vorzuführen, und ebenso
auch derselbe Mangel wie bei jenen, nämlich das Unvermögen, die
Körpermasse, die Gliederstellungen und die Formen einzelner Kor
pertheile stets richtig wiederzugeben.

Während wir bei der Malerei auf dieser Entwickelungsstufe
stehen bleiben mussten, werden wir versuchen, auf dem Gebiete der
Plastik weiterzudringen. Auch hier ist unter den Holzsculpturen
nicht ein einziges Werk bestimmt aus der Mitte des Jahrhunderts
datirt.

Dagegen finden wir eine grosse Bronce-Taufe (Taf. 8) von 1455
im Lübecker Dome, von dem Frzgiesser Laurens Grorc gegossen.
Wenn wir auch hier wie schon früher die 'Gussfertigkeit nicht für

') Der Mitteltheil des Altarschreines enthielt ursprünglich 70 massiv sil-
berne Heiligenfiguren, deren Verzeichniss, welches 1530 aufgenommen wurde,
als bei Einführung der Reformation die vverthvollen Gegenstände auf die Trese
geschafft wurden, sich in Jinimerthal's Chronik S. 25 ff. findet. Der Schrein
wurde dann noch bis 169G benutzt, die Reste der Schnitzerei 1851 von Milde
und Bildhauer Martin aus Hamburg restäurirt.

--IG

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