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I.

Die Venus von Mito.

1855.

Ä?ir gegenüber steht die Maske der Venus von Milo.
Seit Jahren sehe ich sie täglich an, oft gleichgültig, oft in
fremden Gedanken, ohne zu wissen was ich vor mir habe, und
plötzlich ist mir dann wieder, als sähe ich sie zum erstenmal,
schöner als ich sie je erblickte.

Was eine Frau in unsern Augen schmückt und erhebt, ver-
eint sich mir in diesen Zügen. Jch denke an die zurückhaltende
Hoheit der Juno und finde sie hier wieder; ich denke an die
verstoßene Zärtlichkeit Psychens, und ihre Thränen scheinen über
diese Wangen zu rollen; ich denke an das verführerische Lücheln
Aphroditens — es spielt um diese Lippen. — Welch ein Schwung
in diesen Lippen! die obere zart hervorspringend in der Mitte,
dann zurückweichend nach beiden Seiten, leise dann wieder vor-
schwellend und endlich in den Winkeln des Mundes versinkend,
der geöffnet ist; nur ein wenig. Redet sie? seufzt sie? athmet
sie den Opferdampf ein, der zu ihr aufsteigt? Alles; wenn
man denkt, sie thäte es, so thut sie's. Lieblich und mit einem
leichten Grübchen darunter, fast als wollte sie sich spalten, liegt
die Unterlippe unter der oberen, deren Mitte cin wenig über sie
hervorspringt, in der Art, wie man es oft bei Kindern sieht;
aber es kommt nichts kleines, niedliches etwa so in diese wunder-

H. Grimm. Zehn Effayr. s. Aufl. 1
 
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