DIE ALTARWAND DER SIXTINISCHEN KAPELLE
1535—1541
[12, 1 -7]
Die dreißig Jahre zwischen der Aufstellung des David und Bandinellis Herkules enthalten
das Aufsteigen, die Blüte und den beginnenden Verfall der italienischen Kunst. Die Malerei
von 1504 und die von 1534 sind so verschieden, daß in der späteren kaum eine Spur des Geistes
zu finden ist, der die ältere erfüllte. Im Jahre 4 war Raffael noch der Anfänger, der, in der
Nachahmung Peruginos befangen, den beschränkten Gedankenkreis dieses Meisters eben zu
übertreten wagte. Seitdem war er der erste Maler der Welt geworden, hatte die Kühnheit
Michelangelos, die Reinheit der Antike, das Kolorit Venedigs und die Fülle des römischen
Menschenlebens auf sich wirken lassen, hatte eine Schar von jüngeren Künstlern an sich gezogen
und in seinem Sinne angeleitet; und was war übrig davon im Jahre 34? Nicht ein einziger in
Rom, der als sein Nachfolger zu bezeichnen wäre. Giulio Romano fort und übergegangen zur
Art und Weise Michelangelos, die übrigen, nachdem sie eine Zeitlang das vollendet, was der
verstorbene Meister ihnen an letzten Aufträgen hinterließ, versiegt zu unbedeutender Tätigkeit.
Raffael war zu einfach gewesen, um Nachahmern Stoff zu liefern.
Raffael und Indessen, wenn die Übermacht Raffaels und Michelangelos der römischen und floren-
Micheiangeio tinischen Kunst so ihre festen Wege gewiesen hatte, es wurde dennoch ein Pfad gefunden über
als die ersten o o o
Künstler die Grenzen hinaus, innerhalb deren sie sich und ihre Nachfolger hielten. Unabhängig von
ihnen ward der Fortschritt gesucht und gefunden und ein neues Element in die Kunst hinein-
gebracht, dessen Einfluß ein so siegreicher war, daß auf ihm eigentlich alles, was die spätere
Malerei geschaffen hat, zu beruhen scheint.
Allemal, wenn in einer Kunst gegen die Übermacht eines Meisters oder einer Schule rebelliert
wird, geschieht es durch die Rückkehr zur Betrachtung der Natur.
Fon Giotto bis So war durch Giotto der Zwang Cimabues durchbrochen worden, so hatte Masaccio den
Leonardo Einfluß Giottos, Perugino den Masaccios besiegt, so endlich Michelangelo Perugino und Raffael
Michelangelo überboten. Cimabue war der Repräsentant der alten byzantinischen Formen:
Giotto betrachtet die Natur und löst seine Figuren vom goldenen Hintergründe ab, auf dem
sie wie farbige Schablonenstücke klebten. Giottos Gestalten aber stecken in zu festen Umrissen
und entbehren der Schattierung: Masaccio, in der Rückkehr zur Natur, hebt diesen Mangel
auf. Aber dem, was er malte, fehlt die Rundung: Perugino und Leonardo verliehen sie den
Gestalten. Michelangelo erscheint darauf, entkleidet die Körper der beengenden Gewänder
und läßt sie sich in kühnen Verkürzungen freier bewegen. Raffael, die Natur zu Hilfe nehmend,
mildert diese Bewegungen und verschmilzt Farbe und Umriß zur völligen Einheit. Nur dies
blieb noch zu tun übrig: den Gegensatz von Licht und Schatten, welcher bisher zu allgemein
behandelt worden war, bei den einzelnen Farben gründlicher auszubeuten, und dies geschieht
durch die Nachfolger Leonardos in Oberitalien.
Raffaels In kleineren Gemälden hat Raffael Arbeiten geliefert, die den leuchtendsten Gemälden der
Kompositionen Venetianer durchaus ebenbürtig zur Seite stehen, die letzten Konsequenzen der Hilfsmittel
aber, welche die Farbe für die Komposition bietet, hat er diesen und ihren Anhängern zu
ziehen überlassen. Nicht mehr den Linien nach, welche die Umrisse der Gestalten bilden,
ordnen die Venetianer ihre Gruppen; sondern indem sie farbige Massen zueinander in das
richtige Verhältnis setzen, und in der so entstehenden Harmonie die Wirkung des Ganzen
suchen, gewinnen sie für die Bewegung der Figuren eine Freiheit, die den Römern und Flo-
rentinern unerreichbar war.
176
1535—1541
[12, 1 -7]
Die dreißig Jahre zwischen der Aufstellung des David und Bandinellis Herkules enthalten
das Aufsteigen, die Blüte und den beginnenden Verfall der italienischen Kunst. Die Malerei
von 1504 und die von 1534 sind so verschieden, daß in der späteren kaum eine Spur des Geistes
zu finden ist, der die ältere erfüllte. Im Jahre 4 war Raffael noch der Anfänger, der, in der
Nachahmung Peruginos befangen, den beschränkten Gedankenkreis dieses Meisters eben zu
übertreten wagte. Seitdem war er der erste Maler der Welt geworden, hatte die Kühnheit
Michelangelos, die Reinheit der Antike, das Kolorit Venedigs und die Fülle des römischen
Menschenlebens auf sich wirken lassen, hatte eine Schar von jüngeren Künstlern an sich gezogen
und in seinem Sinne angeleitet; und was war übrig davon im Jahre 34? Nicht ein einziger in
Rom, der als sein Nachfolger zu bezeichnen wäre. Giulio Romano fort und übergegangen zur
Art und Weise Michelangelos, die übrigen, nachdem sie eine Zeitlang das vollendet, was der
verstorbene Meister ihnen an letzten Aufträgen hinterließ, versiegt zu unbedeutender Tätigkeit.
Raffael war zu einfach gewesen, um Nachahmern Stoff zu liefern.
Raffael und Indessen, wenn die Übermacht Raffaels und Michelangelos der römischen und floren-
Micheiangeio tinischen Kunst so ihre festen Wege gewiesen hatte, es wurde dennoch ein Pfad gefunden über
als die ersten o o o
Künstler die Grenzen hinaus, innerhalb deren sie sich und ihre Nachfolger hielten. Unabhängig von
ihnen ward der Fortschritt gesucht und gefunden und ein neues Element in die Kunst hinein-
gebracht, dessen Einfluß ein so siegreicher war, daß auf ihm eigentlich alles, was die spätere
Malerei geschaffen hat, zu beruhen scheint.
Allemal, wenn in einer Kunst gegen die Übermacht eines Meisters oder einer Schule rebelliert
wird, geschieht es durch die Rückkehr zur Betrachtung der Natur.
Fon Giotto bis So war durch Giotto der Zwang Cimabues durchbrochen worden, so hatte Masaccio den
Leonardo Einfluß Giottos, Perugino den Masaccios besiegt, so endlich Michelangelo Perugino und Raffael
Michelangelo überboten. Cimabue war der Repräsentant der alten byzantinischen Formen:
Giotto betrachtet die Natur und löst seine Figuren vom goldenen Hintergründe ab, auf dem
sie wie farbige Schablonenstücke klebten. Giottos Gestalten aber stecken in zu festen Umrissen
und entbehren der Schattierung: Masaccio, in der Rückkehr zur Natur, hebt diesen Mangel
auf. Aber dem, was er malte, fehlt die Rundung: Perugino und Leonardo verliehen sie den
Gestalten. Michelangelo erscheint darauf, entkleidet die Körper der beengenden Gewänder
und läßt sie sich in kühnen Verkürzungen freier bewegen. Raffael, die Natur zu Hilfe nehmend,
mildert diese Bewegungen und verschmilzt Farbe und Umriß zur völligen Einheit. Nur dies
blieb noch zu tun übrig: den Gegensatz von Licht und Schatten, welcher bisher zu allgemein
behandelt worden war, bei den einzelnen Farben gründlicher auszubeuten, und dies geschieht
durch die Nachfolger Leonardos in Oberitalien.
Raffaels In kleineren Gemälden hat Raffael Arbeiten geliefert, die den leuchtendsten Gemälden der
Kompositionen Venetianer durchaus ebenbürtig zur Seite stehen, die letzten Konsequenzen der Hilfsmittel
aber, welche die Farbe für die Komposition bietet, hat er diesen und ihren Anhängern zu
ziehen überlassen. Nicht mehr den Linien nach, welche die Umrisse der Gestalten bilden,
ordnen die Venetianer ihre Gruppen; sondern indem sie farbige Massen zueinander in das
richtige Verhältnis setzen, und in der so entstehenden Harmonie die Wirkung des Ganzen
suchen, gewinnen sie für die Bewegung der Figuren eine Freiheit, die den Römern und Flo-
rentinern unerreichbar war.
176