Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
21

Warum zeichnen wir nach der Natur? Gewiß nicht ausschließlich deshalb, daß
wir unser „Auge" üben, damit es „sehen" lerne. Das wäre nnr halbe Arbeit. Wir
müssen auch dafür sorgen, daß wir einen Schatz von Erinnerungsbildern im Gedächt-
nifse zurückbehalten. Die Apperzeption von Bildern der Wirklichkeit ist die eigent-
liche Aufgabe aller Naturstudien. Darum soll der Schüler bei jeder Zeichnung nach
der Natur daran denken, daß er sie aus dem Kopfe, wenn auch nur in den Äaupt-
zügen reproduzieren können muß. Wir erziehen ihn dazu, indem wir nach jeder
Naturstudie von ihm fordern, daß er versuche, sie aus dem Kopfe zu wiederholen. Es
braucht dies nicht a tsmpo zu geschehen, sondern man kann die Wiederholung nach
einiger Zeit fordern. Der Nutzen dieser Praktik leuchtet ohne weiteres ein, ebenso
daß dadurch das Zeichnen nach der Natur zu einer ganz eminent geistigen Tätigkeit
werden muß, die ihresgleichen nicht hat. Es ist ein Naturstudium x>ai- oxoollsnoo
und steht nach feinem formalen und materiellen Znhalt in der Neihe der vornehmsten
Funktionen des menschlichen Geistes mit an allererster Stelle. So wenig diese Be-
hauptung heutzutage noch verstanden wird, dürfen wir hoffen, daß in nicht zu ferner
Zukunft Ruskins Wort geroürdigt werde: „Nach meiner festen Llberzeugung besteht
die höchste Leistung des Menschen in dieser Welt darin, daß er ffieht' und dann
wiedergibt, was er durch sein ,Sehew erfaßt hat. Anter hundert Menschen kann
einer denken, aber erst unter tausend findet sich einer, der ,sehew kann."

Die Erziehung zu einer künstlerischen Naturauffassung.

„^)ei dem Zeichnen nach der Natur kommt es vor allem darauf an, daß der
als Vorbild gewählte Naturgegenstand in seiner charakteristischen Erscheinung richtig
aufgefaßt und lebendig wiedergegeben wird." Da die lebendige Wiedergabe ge-
wissermaßen automatisch aus der richtigen Auffaffung hervorgeht, gleich wie man über
eine Angelegenheit, die man durch und durch erfaßt hat, in der man „lebt", ohne
Kunst lebendig und verständig anderen vorträgt, so kommt alles darauf an, daß der
Lehrer für eine richtige Auffassung sorge. Das ist der direkteste Weg zu einem
lebendigen zeichnerischen Vortrage des Schülers.

„Es trägt Verstand und rechter Sinn
Mit wenig Kunst sich selber vor." Goethe.

Darum fiöße dem Schüler zuerst Liebe zur Sache ein, denn sie macht sehend.
Mit einem Worte oft kann man ihn dahin bringen, daß er einen Gegenstand in
einem schöneren Lichte schaut, als seine blöden Augen ihn bisher zu sehen gewöhnt
waren.

Zu diesen suggestiven Mitteln, die dem Schüler die Augen öffnen, müssen aber
selbstverständlich andere kommen, Mittel mehr grammatikalischer Natur, die ihn lehren,
eine Naturerscheinung zu zergliedern, damit er die Teile in der Zeichnung richtig
wieder zusammensetzen könne.

Vor ihm steht ein Gegenstand, der ihm viele Linien, Flächen, Farbenfiecke zeigt.
Wo soll er anfangen? Wie soll er der vielen Eindrücke Äerr werden? Da heißt
es: Divicko ok im^ora! Teile dir die Arbeit ein, und du wirst sie beherrschen. Man
 
Annotationen