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DER GENIUS

„Den vielwissenden Künstlern
ist es alles verborgen."

(Seb. Frank.)

Genius": das war den Römern der „Lebenerzeugende", Leben
schützende, eine halb göttliche Wesenheit elementarischer Art,
welche gleichsam als unsichtbarer Mittler wirkend stand zwischen
der bewußten abgelösten Persönlichkeit des Einzelmenschen und dem
namenlosen Hintergrund des naturhaften Seins, dessen Rhythmus
dennoch in sie erfloß. Gleichsam die Verkörperung des rettenden,
bewahrenden Lebensinstinkts war der Genius; nicht Geist, Be-
wußtsein, vernunftgesetzte willensbestimmende Norm. Wer seinem
Genius folgt, irrt und strauchelt nicht; noch ungebrochen, diesseits
von Gut und Böse, Häßlich und Schön, lebt fortzeugend in seinem
Sein und Tun Natur vollkommen sich aus.

Für den heidnischen Römer nahm der Schutzlebensgeist bei der
Geburt im Menschen Platz und verließ ihn erst nach dem Tode.
Es hängt wohl mit der durch das Christentum vollzogenen Ab-
lösung unserer inneren Grundlagen vom Natur-Sein zusammen,
wenn wir heute — nach gegenwärtigem Sprach- und Bedeutungs-
gefühl — wirkenden Genius ganz im Gegensatz zu „Genie" nur
noch dem Kindesalter zusprechen mögen!

Genius wirkt gleichsam von außen: er ist die personifizierende
Verbildlichung jener unsichtbaren Außenwelt unterbewußter
Lebens- und Seelenkräfte, die nach altem hermetischem Gleichnis
den wachsenden Menschen umgeben und ihm erst allmählich so
zur selbstbeherrschten Innenwelt werden, wie sich vorher sein
materieller Leib aus der umgebenden Körperlichkeit zu einem
Sonderbestande herausgegliedert hatte. Solange der äußere Lebens-
und Seelenkosmos das kleine Kind noch von außen her wie eine
mütterliche Hülle umfängt, durchblutet und lenkt, ist eine ganze,
wahrhaft kosmische Fülle der Möglichkeiten, wenn auch in winzigen
Gaben, sein; dem allwissenden Unbewußten ist das Geschöpf gleich-
sam noch lebendig angeschlossen. Hat es aber erst für sich einen
eigenen leib-seelischen Organismus gebildet und seinem bewußten

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