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VOM STIL DER KINDERZEICHNUNG

Die reiche Ein-bildung von Gesichten macht den kunstartigen
Wert des zeichnerischen Ausdrucks beim Kinde aus. Sein
„Stil", d. h. die besonderen formalen Behelfsmittel und Konventionen
kindlicher Bildersprache, einschließlich der sog. „Kinderfehler",
gründet sich dagegen psychologisch in dem praktischen Wissen, in
den „Sehvorstellungen" Wulffs. Er bleibt dann, wie man leicht
nachprüfen kann, auch bei dem ungeschulten, unbegabten Erwach-
senen, der die illusionistischen Mittel nicht erlernt hat, weitgehend
erhalten; hier tritt er sogar ganz kahl hervor, weil der kindliche
Reichtum der Gesichte ganz erloschen ist und auch die Zeichen
vier unanschaulicher, begrifflich leerer geworden sind. Dieser Stil
ist oft geschildert und in seiner psychogenetisch gesetzmäßigen
Entwicklung beschrieben worden. Er ist die durchschnittliche
Ausdrucksweise des Kindes, und zwar gerade auch des künstlerisch
unbegabten Kindes, das weniger in der rein optischen, als in dqr
praktischen Wissenssphäre wurzelt. Djis durchschnittliche Kind —
so hat man oft gesagt — zeichnet nicht, was es sieht, sondern was
es weiß. Dieser Satz ist einseitig und mißverständlich. Auch das
nicht sonderbegabte Kind hat doch — eben als Kind — seine Fülle
innerlich gesehener, weil stark gefühlsbetonter Bilder. Freilich
scheinen diese ihm nicht so sehr als Gesichte denn als allgemeinere
begriffsartige Zeichen verfügbar;. wenigstens sind die einzelnen
Gesichte nicht derartig (evtl. bis zum eidetischen) präsent und
auch, wohl wegen geringerer Phantasie, nicht derartig gefühls-
wichtig, daß die Hand das innere Bild zu gestalten vermag —
scheint doch die größere Intensität des inneren Vorstellens auch
die schnellere Bahnung der Leitungs-, der Innervationswege
von Seele zu Hand mit sich zu bringen. Dagegen sind die
allgemeineren Begriffsbilder kräftig vorhanden, und fast jedes Kind
findet für diese strukturell begünstigten inneren Zeichen in ihrer
immer noch sinnfälligen Form auch ein sinnfälliges, natürlich erst
recht mehr oder weniger geometrisch-schematisches Abbild auf dem
Papier. Das Kind hat seine fixen Begriffsbilder „im Kopf" oder

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