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AUSDRUCK ÜND FORM

Die Tatsache, daß die Kinder mit Gesichten und Zeichen, auf
alle Fälle also mit inneren Bildern gestalten und daß sie diese
mehr oder weniger schematischen Bilder aber nicht erfahrungsgemäß
verbinden, sondern wissensgemäß aneinanderreihen — das alles bietet
ein psychologisches, vielleicht auch ein stilkundliches Problem, aber
noch kein Problem der Ästhetik. Mit der Feststellung, daß ein Kind
eine schematische Bilderschrift entwickelt und alle deren gesetz-
mäßige Eigenschaften auseinander folgen läßt, ist eine künstlerisch
abfällige Beurteilung keineswegs gegeben. Kinder, welche frühzeitig
das Gedächtnis durch Beobachtung kontrollieren, ja gerade diejenigen,
die dabei zu einer formgemäß durchgearbeiteten Natur- und Modell-
darstellung fortschreiten, bringen keineswegs immer Dinge von
künstlerischem Reiz hervor. Die größere oder geringere Annähe-
rung an die Naturwahrheit im Sinne unserer heutigen Normal-
vorstellung seit der Renaissance ist nur sehr bedingt ein Merkmal
größeren oder geringeren künstlerischen Wertes. Bisher waren
es meist nur Zeichenlehrer, die sich eingehender mit der Entwick-
lung und dem Wesen der freien Kinderzeichnung beschäftigt haben
(von einigen Prähistorikern und Kulturforschern abgesehen); es lag
in der Erziehung unserer Lehrer, daß diese den Maßstab der
Beurteilung lange Zeit immer nur aus dem korrekten Ideal einer
fertigen akademischen Ausbildung abzunehmen vermochten. Wir
behaupten aber, daß die Zeichnung eines talentierten vierzehnjährigen
Musterschülers, der einen Körper nach der Natur oder aus dem
Gedächtnis mit vollem Verständnis der Verhältnisse und Verbin-
dungen, der Einzelformen wie der Gesamtform sauber und richtig
wiederzugeben vermag, nicht selten vor gewissen „ungeschickten"
Zeichen und Gesichten eines sechsjährigen nichts voraus zu haben
braucht, ja ihm unterlegen sein kann. So wenig wie die Unter-
suchung des Stils als solchen in der Kunstgeschichte schon die
Frage des künstlerischen Wertes nach Formvollendung, Ausdrucks-
kraft, Schönheit und Wahrheit berührt — auch qualitätlose Dinge
entstehen innerhalb eines Stils, und es besagt z. B. nichts über den

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