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GRENZEN DES GENIUS

Die Entdeckung der künstlerischen Eigenwelt des Kindes, ihrer
heuristischen Bedeutung für die Erkenntnis der Anfänge der Kunst
und für die Völkerkunde, ihr Gewinn für Kinderpsychologie und
Pädagogik, insbesondere ihre bahnbrechende Wirkung auf den Schul-
zeichenunterricht, der in der Reform der Schul-Musikpflege eine
beachtliche Parallele aufweist: das alles gehört zu den großen recht
eigentlichen Erkenntnisgewinnen der Gegenwart. Es verhält sich zu
der älteren Kinderkunde und Zeichenpädagogik etwa so wie die
Psychoanalyse zur älteren Psychiatrie. Als Ganzes gehört es
neben die kunstwissenschaftliche Entdeckung des ästhetischen und
stilistischen Eigenwertes primitiver Kunst überhaupt, die heute von
einem bloß völkerkundlichen Gegenstand zum wahrhaft kunst-
geschichtlichen Objekt erhoben worden ist. —

Überschätzen wir nicht dennoch die unentwickelten kindlichen
Ausdrucksversuche? Ist das Wesen dieser Versuche nicht etwas
so Selbstverständliches, daß man es mit Worten lieber gar nicht
berühren und beleuchten sollte? Heißt dies Bestärken in seiner
eigentümlichen Weise, dies Ausspielen kindlicher Art gegen die der
heutigen Erwachsenen nicht — selbst wenn es sich nur auf Kunst
und Spiel beschränkt — ein Bruch mit jenem obersten Grundsatz
der Erziehung, welcher den Fortschrittswillen mit dem rückläufigen
Romantisierungstrieb im Kinde versöhnt: dem Prinzip der Autorität
und der Ehrfurcht?

In der Tat würden Zeitalter, in denen der Erwachsene und sein
Leben nur eine organische Fortsetzung und Entwicklung des Kind-
heitsalters und seiner Daseinsformen darstellen, auf eine Einstellung
wie die unsrige gar nicht kommen, und vielleicht ergreifen wir
damit den tiefsten Grund der Tatsache, daß vor allem der Antike
ein sentimentaler Kinderkult fehlt. Es ist aber eine Grund-
wahrheit gegenwärtiger Zeitkritik, daß in der Mechanisierung und
Entseelung des Lebens, wie es der heutige zivilisierte Erwachsene
führen muß, ein scharfer Gegensatz zu jener Daseinsform besteht,
die einmal war und die sich im Kindesalter immer wiederholt.
Was in organischen Zeitläuften in der Tat ehrfürchtig von den

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