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Lotze: Allgemeine Physiologie etc.

wesentlichsten Differenzen in den philosophischen Grundanschauun-
gen entschieden werden muss. Die Ansicht über das Wesen der
Seele ist nach übereinstimmender Auffassung der wichtige Punkt,
wo sich entweder die idealistische Hypothese einer übersinnlichen
Welt bewähren, oder die Verwerfung derselben durch eine materiali-
stische Anschauung von der Seele rechtfertigen muss. Desswegen
haben für die gegenwärtige Philosophie, in welcher die Gegensätze
des Idealismus und des Materialismus so hart an einander gerathen
sind, und die Herrschaft Beider so sehr bestritten ist, keine andre
Untersuchungen eine solche Bedeutung, wie gerade psychologische.
Lotze’s sämmtliche Arbeiten verdienen aber eine ganz besondere
Aufmerksamkeit, weil er sich nicht nur durch das gewaltige Material
der Naturwissenschaft hindurchzuarbeiten, sondern sich auch mit den
Systemen der Philosophie kritisch auseinanderzusetzen bemüht hat;
weil er neben den theoretischen Anforderungen der Naturerklärung
auch die praktischen einer ethischen Weltordnung mit Gemiith er-
fasst hat, wie wir besonders aus dem interessanten Mikroskosmos
ersehen. Lotze repräsentirt der Philosophie gegenüber den Fort-
schritt der Naturwissenschaften, welchen er in die spekulativen An-
schauungen der Metaphysik und Psychologie einzuführen strebt;
und der alles Uebersinnliche negirenden Empirie gegenüber sucht
er die wahren Errungenschaften der Philosophie in ihrer realen Be-
deutung an den einzelnen Problemen festzuhalten, und ganz beson-
ders durch seine Anschauung von dem Wesen der Seele geltend
zu machen.
Dieser vermittelnden Stellung Lotze’s mag es jedoch zuzu-
schreiben sein, dass seine vortrefflichen Arbeiten nach beiden Seiten
hin ihr Bedenkliches haben, und im Allgemeinen weniger bespro-
chen werden, als sie es, ihrem gediegenen Gehalte und den ernsten
Studien ihres Verfassers nach, so sehr verdienen. Den Philosophen
ist es wohl ein heimliches Unbehagen, dass ein so scharfsinniger
Denker, wie Lotze, die ganze Welt des abstrakt Idealen mit der
Lebenskraft verwirft, welche er aus den Gesetzen des allgemeinen
Naturlaufs erklärt wissen will; und dass er sogar in den unendlich
complicirten Erscheinungen des Seelenlebens einen nothwendigen
psychischen Mechanismus zu erkennen strebt. Die empirischen
Forscher dagegen fühlen sich von Lotze’s Ansichten unwillkürlich
abgestossen, weil er ihnen durch seinen Begriff von der Seele allen
Idealismus zu restituiren scheint, welchen er, nachdem er ihn so glück-
lich und eingehend an dem Begriffe der Kraft und des Lebens wi-
derlegt hat, zuguterletzt, an ein inneres Leben der Materie glau-
bend, als alte Metaphysik wieder bringt, wie jene behaupten.
Während Lotze’s Anschauungsweise für beide Gegensätze ihr Un-
bequemes hat, wird sie für Jeden, welcher sich über Natur und Bedeutung
derselben zu unterrichten und über deren Beschränktheit und Einseitigkeit
zu erheben gedenkt, ein um so grösseres Interesse haben. Wir be-
trachten sie daher in ihrem Verhältniss zum Materialismus und Idea-
 
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