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Man hat sich oft über Cordelias Ende gewundert, ja es aufs Bitterste
getadelt*), doch nur weil man Shaksperes Charakterzeichnung nicht ver-
stand. Bei der gewöhnlichen Idealisirung dieser Gestalt war es gar nicht
so thöricht, wie es wirklich ist, dass man versucht hat, dem Stück mit
Cordelias Triumph einen freundlichen Abschluss zu geben. Warum hat
denn Shakspere diesen vermieden, während doch die von ihm etwa be-
nutzten Erzählungen ihn boten? Jeder verständige Shakspere-Beurteiler
sollte sich sagen, dass schon das Ende der Cordelia die Unhaltbarkeit
jener falschen Idealisierung beweist; bei einem so bedeutenden Psycho-
logen, wie Shakspere es war, auf das „Geheimnis“ sich zurückzuziehen
oder den „poetischen Instinkt ohne bewussten Vorsatz“ anzurufen, geht
nicht an1 2). Es reicht auch nicht aus, darauf hinzuweisen, dass ein
britischer Dichter kaum anders konnte, als eine Tochter Britanniens, die
mit dem feindlichen Heer den heimatlichen Boden betrat, in Niederlage
und Untergang endigen lassen. Viel wichtiger ist, dass die Tochter Lears,
die ihrem Vater die Veranlassung zur Selbstvernichtung gab, nicht un-
schuldig den Anstoss zu der Bewegung gibt, die im Tode Lears endigt,
und dass sie daher nach tragischer Gerechtigkeit an dem Loos Lears
Anteil haben muss, wie sie es an seiner Verschuldung hatte. Analog
dem Eingang des Stücks, wo sie den Anlass zu Lears Verschuldung gibt,
wird am Ende des Stücks ihr Tod der Anlass seines Todes.
Während sich Cordelias Handlungen und Geschicke um das Gefühl
der Vaterliebe bewegen, wird Lears älteste Tochter Goneril in auffallen-
der Ähnlichkeit mit ihrem Vater wesentlich durch das Selbstgefühl be-
stimmt, das hei ihr freilich mehr nach seiner thätigen Seite hervortritt.
Dem weniger tief Blickenden könnte sie als eine Frau von starkem
Willen erscheinen, aber was ist denn Wille ohne Vernunft und Urteils-
kraft? und wo wäre hei Goneril die Vernunft, die dem Willen einen
Inhalt, die Urteilskraft, die ihm eine Leitung böte? Thatsächlich ist
Goneril ein Vulkan von Trieben und Leidenschaften, der ausbricht, un-
bekümmert, wen die Eruption trifft, und was er vernichtet, um nach der
vollzogenen Verwüstung in sich zusammenzubrechen. Sie kennt keine
grossen Ziele. Die Macht erquickt sie wohl; Herrschen ist ihr wie
vielen Frauennaturen an sich eine Lust. Aber sie befriedigt sich darin,
diese Lust recht auffällig zu empfinden, ohne eigentliche Aufgabeu der
Herrschaft zu kennen. Bei der Behandlung des Vaters ist ihr dieses
1) Vgl. darüber Öhlmann, „Cordelia als tragischer Charakter“ im Shakspere-
Jahrbuch II.
2) Hermann Freih. von Friesen, a. a. 0. S. 107 f.
Man hat sich oft über Cordelias Ende gewundert, ja es aufs Bitterste
getadelt*), doch nur weil man Shaksperes Charakterzeichnung nicht ver-
stand. Bei der gewöhnlichen Idealisirung dieser Gestalt war es gar nicht
so thöricht, wie es wirklich ist, dass man versucht hat, dem Stück mit
Cordelias Triumph einen freundlichen Abschluss zu geben. Warum hat
denn Shakspere diesen vermieden, während doch die von ihm etwa be-
nutzten Erzählungen ihn boten? Jeder verständige Shakspere-Beurteiler
sollte sich sagen, dass schon das Ende der Cordelia die Unhaltbarkeit
jener falschen Idealisierung beweist; bei einem so bedeutenden Psycho-
logen, wie Shakspere es war, auf das „Geheimnis“ sich zurückzuziehen
oder den „poetischen Instinkt ohne bewussten Vorsatz“ anzurufen, geht
nicht an1 2). Es reicht auch nicht aus, darauf hinzuweisen, dass ein
britischer Dichter kaum anders konnte, als eine Tochter Britanniens, die
mit dem feindlichen Heer den heimatlichen Boden betrat, in Niederlage
und Untergang endigen lassen. Viel wichtiger ist, dass die Tochter Lears,
die ihrem Vater die Veranlassung zur Selbstvernichtung gab, nicht un-
schuldig den Anstoss zu der Bewegung gibt, die im Tode Lears endigt,
und dass sie daher nach tragischer Gerechtigkeit an dem Loos Lears
Anteil haben muss, wie sie es an seiner Verschuldung hatte. Analog
dem Eingang des Stücks, wo sie den Anlass zu Lears Verschuldung gibt,
wird am Ende des Stücks ihr Tod der Anlass seines Todes.
Während sich Cordelias Handlungen und Geschicke um das Gefühl
der Vaterliebe bewegen, wird Lears älteste Tochter Goneril in auffallen-
der Ähnlichkeit mit ihrem Vater wesentlich durch das Selbstgefühl be-
stimmt, das hei ihr freilich mehr nach seiner thätigen Seite hervortritt.
Dem weniger tief Blickenden könnte sie als eine Frau von starkem
Willen erscheinen, aber was ist denn Wille ohne Vernunft und Urteils-
kraft? und wo wäre hei Goneril die Vernunft, die dem Willen einen
Inhalt, die Urteilskraft, die ihm eine Leitung böte? Thatsächlich ist
Goneril ein Vulkan von Trieben und Leidenschaften, der ausbricht, un-
bekümmert, wen die Eruption trifft, und was er vernichtet, um nach der
vollzogenen Verwüstung in sich zusammenzubrechen. Sie kennt keine
grossen Ziele. Die Macht erquickt sie wohl; Herrschen ist ihr wie
vielen Frauennaturen an sich eine Lust. Aber sie befriedigt sich darin,
diese Lust recht auffällig zu empfinden, ohne eigentliche Aufgabeu der
Herrschaft zu kennen. Bei der Behandlung des Vaters ist ihr dieses
1) Vgl. darüber Öhlmann, „Cordelia als tragischer Charakter“ im Shakspere-
Jahrbuch II.
2) Hermann Freih. von Friesen, a. a. 0. S. 107 f.