Wesen, Werden und Wachsen der Lebenswelt
PETER SITTE*
Zusammenfassung
Was ist Leben? Diese Frage, die im Denken der Menschheit seit je eine beson-
dere Rolle gespielt hat, ist heute konkret beantwortbar. Leben ist an komplexe
organische Systeme gebunden, die unter Energieaufnahme und Entropieab-
gabe gleichartige Systeme erzeugen können. Organismen funktionieren dabei
zweckmäßig und entwickeln sich zielgerichtet. Das setzt aber kein teleologes
Prinzip voraus, wie lange Zeit angenommen worden war. Vielmehr beruht die
Finalität der Lebewesen auf artspezifischen genetischen Programmen, die
digital verschlüsselt in Riesenmolekülen von DNA gespeichert sind. Deren
überaus präzise Vervielfältigung ist heute in allen Details verstanden. Damit
können jetzt auch Vorstellungen über die Entstehung einfachster Lebensfor-
men vor etwa 4 Milliarden Jahren konkretisiert werden. Die Entwicklung der
zahllosen Organismenformen in der Erdgeschichte lässt sich inzwischen
ebenfalls detailreich rekonstruieren. Die Lebensevolution verlief lange Zeit
auf Einzellerniveau, seit dem späten Präkambrium aber ständig beschleunigt
auch unter Ausbildung immer komplexer gebauter Vielzeller. DNA-Sequenz-
vergleiche lassen die abgestuften Verwandtschaften der heute lebenden Orga-
nismen immer deutlicher erkennen und weisen auf einen gemeinsamen Ur-
sprung der gesamten Lebenswelt hin.
In der fortdauernden Diskussion um die bei der Lebensevolution wirken-
den Kräfte spielt nach wie vor die Darwinsche Selektionstheorie eine zentra-
le Rolle. Heute lassen sich auch große Typensprünge in der Evolution verste-
hen, die lange Zeit rätselhaft waren. Sie beruhen vielfach auf Interaktionen
zwischen zunächst getrennt evoluierten Einheiten, deren Vernetzungen zu
neuen Systemen höherer Komplexität führen (Komplexifikation). So sind alle
kernhaltigen Zellen eigentlich Mosaikzellen, hervorgegangen aus dem Zu-
sammenbau ganz unterschiedlicher Zellen (Symbiogenese). Die zunehmende
Komplexifizierung verleiht trotz aller Zufälligkeiten der Lebensevolution eine
Richtung („Musterwachstum" durch immer weiter gehende Kombinatorik).
In Anlehnung an den Eröffnungsvortrag der Reihe „Evolution: Von der Entstehung der Erde bis zur Ent-
faltung des Geistes", veranstaltet vom Zoologischen Institut der Universität Heidelberg, 20. Oktober 2002).
PETER SITTE*
Zusammenfassung
Was ist Leben? Diese Frage, die im Denken der Menschheit seit je eine beson-
dere Rolle gespielt hat, ist heute konkret beantwortbar. Leben ist an komplexe
organische Systeme gebunden, die unter Energieaufnahme und Entropieab-
gabe gleichartige Systeme erzeugen können. Organismen funktionieren dabei
zweckmäßig und entwickeln sich zielgerichtet. Das setzt aber kein teleologes
Prinzip voraus, wie lange Zeit angenommen worden war. Vielmehr beruht die
Finalität der Lebewesen auf artspezifischen genetischen Programmen, die
digital verschlüsselt in Riesenmolekülen von DNA gespeichert sind. Deren
überaus präzise Vervielfältigung ist heute in allen Details verstanden. Damit
können jetzt auch Vorstellungen über die Entstehung einfachster Lebensfor-
men vor etwa 4 Milliarden Jahren konkretisiert werden. Die Entwicklung der
zahllosen Organismenformen in der Erdgeschichte lässt sich inzwischen
ebenfalls detailreich rekonstruieren. Die Lebensevolution verlief lange Zeit
auf Einzellerniveau, seit dem späten Präkambrium aber ständig beschleunigt
auch unter Ausbildung immer komplexer gebauter Vielzeller. DNA-Sequenz-
vergleiche lassen die abgestuften Verwandtschaften der heute lebenden Orga-
nismen immer deutlicher erkennen und weisen auf einen gemeinsamen Ur-
sprung der gesamten Lebenswelt hin.
In der fortdauernden Diskussion um die bei der Lebensevolution wirken-
den Kräfte spielt nach wie vor die Darwinsche Selektionstheorie eine zentra-
le Rolle. Heute lassen sich auch große Typensprünge in der Evolution verste-
hen, die lange Zeit rätselhaft waren. Sie beruhen vielfach auf Interaktionen
zwischen zunächst getrennt evoluierten Einheiten, deren Vernetzungen zu
neuen Systemen höherer Komplexität führen (Komplexifikation). So sind alle
kernhaltigen Zellen eigentlich Mosaikzellen, hervorgegangen aus dem Zu-
sammenbau ganz unterschiedlicher Zellen (Symbiogenese). Die zunehmende
Komplexifizierung verleiht trotz aller Zufälligkeiten der Lebensevolution eine
Richtung („Musterwachstum" durch immer weiter gehende Kombinatorik).
In Anlehnung an den Eröffnungsvortrag der Reihe „Evolution: Von der Entstehung der Erde bis zur Ent-
faltung des Geistes", veranstaltet vom Zoologischen Institut der Universität Heidelberg, 20. Oktober 2002).