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Brodersen, Kai; Gebhardt, Hans [Editor]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Editor]
Heidelberger Jahrbücher: Weltbilder — Berlin, Heidelberg [u.a.], 47.2003 [erschienen] 2004

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.4061#0295

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Die weltbildende Kraft der Sprache

OSKAR REICHMANN

i Einführung und das Gegenbild

Zwei Elfjährige streiten über die Existenz bzw. Nicht-Existenz Gottes. Sie kön-
nen sich nicht einigen und versuchen es deshalb mit einem Beweis. Gott aber
rührt sich nicht. Darauf der eine: „Siehst Du, es gibt ihn nicht". Der andere:
„Doch, er hat sich nur versteckt". Auf die Thematik des vorliegenden Artikels
angewandt bedeutet dies: So lange man von der „weltbildenden Kraft der
Sprache" redet, so lange existiert die Auffassung, dass es diese nicht Kraft ge-
be, und eben so lange existiert die Gegenauffassung, dass es sie doch gebe.
Und da man sich über beide Positionen - eigentlich sind es Glaubensbe-
kenntnisse, die etwas über Linguisten aussagen - nicht einigen kann, schreitet
man zu einer inzwischen endlosen Reihe1 vor allem empirischer „Beweise",
denn diese haben nun einmal die höchste Überzeugungskraft. Das Ergebnis
lautet auch hier: „Siehst Du, es gibt sie nicht, die weltbildende Kraft" bzw.
„Doch, wir haben nur den überzeugenden Beweis noch nicht gefunden".
Selbstverständlich war mir bei der Konstruktion dieser Analogie bewusst,
dass es problematisch ist, eine Vergleichsbeziehung zwischen Gott und einem
linguistischen Bezugssachverhalt herzustellen. Diese Problematik wird noch
dadurch erhöht, dass alle Nennwörter der Artikelüberschrift, weltbildend
ebenso wie Kraft und erst recht wie Sprache, polysem sind.

Die Einführung in die Thematik des Artikels erfolgt am sinnvollsten aus
dem Gegensatz zur „weltbildenden Kraft der Sprache" heraus. Die schärfste
Form dieses Gegensatzes bildet der rationalistische Sprachbegriff des 18. Jahr-
hunderts. Dieser geht von vier Größen aus, die hier ohne weitere Differenzie-
rung

a) als Realität,

b) als mentale Repräsentation der Realität im Kopf des Menschen,

c) als sprachliches Zeichensystem und

d) als dessen Realisierung im einzelnen Sprechen und Schreiben

Ausführlich beschrieben und beurteilt von Werlen 2002, S. 31-90.
 
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