Triumph und Trauma:
Die kopernikanische Wende und ihre Folgen
in Brechts „Leben des Galilei"
HELMUTH KIESEL
Die Reaktionen auf die mathematische und teleskopische Plausibilisierung
der heliozentrischen Ordnung des Kosmos fielen, wie der voranstehende Auf-
satz zeigt, unterschiedlich aus. Während die einen - von Gryphius an - den
Fortschritt der Erkenntnis feierten und die metaphysischen Konsequenzen
der kopernikanischen Wende verkrafteten, indem sie die Vorstellungen von
Gott und Himmel weiter spiritualisierten, reagierten die anderen - bis hin zu
Nietzsche - phobisch, interpretierten die Destruktion des geozentrischen
Weltbilds gleich auch als Destruktion der theozentrischen Welt und sahen
sich im Nihilismus landen -: als völlig unbedeutende Kreaturen eines flüchti-
gen Moments in einem räumlich und zeitlich unabsehbaren kosmischen Trei-
ben, das nicht eben unter der Obhut eines Gottes zu stehen schien und dessen
Sinn nicht auszumachen war. Aber während der Pastorensohn Nietzsche noch
einmal den Verlust der Sinn- und Heilsgewissheit beklagte und die nihilisti-
schen Konsequenzen der kopernikanischen Wende eindrucksvoll ausmalte,
gewann die positive Wertung der kopernikanischen Wende die Oberhand. Für
die Vordenker des späteren 19. Jahrhunderts, für Comte, Marx, du-Bois-Rey-
mond, Dilthey usw., waren die Konsequenzen der kopernikanischen Wende
nur positiv: Durchsetzung des wissenschaftlichen Denkens; Befreiung aus
den Banden von Theologie und Kirche; Erkenntnis der Autonomie des Men-
schen.1 Eine abschließende und wirkungsreiche Kodifikation dieser moder-
nen Wertung der kopernikanischen Wende schuf Bertolt Brecht mit seinem
Drama ,Leben des Galilei', das zwar, wie der Titel anzeigt, Galileo Galilei zum
Helden hat, nichtsdestoweniger aber ein Stück über die kopernikanische
Wende ist, genauer: über deren wissenschaftliche Plausibilisierung und -
nicht unproblematische - gesellschaftliche Fruktifizierung.
Brechts Drama ,Das Leben des Galilei',2 das zwischen 1938 und 1956 ent-
stand, umfasst in seiner letzten Fassung, auf die sich die folgenden Ausfüh-
Vgl. Dienst, Kopernikanische Wende, Sp. 1096.
Zu den wichtigsten literaturgeschichtlichen Aspekten vgl. die umsichtigen Darlegungen von Rainer E.
Zimmermann im Brecht-Handbuch 1, S. 357-379, und den sehr informativen Kommentar zum Leben des
Die kopernikanische Wende und ihre Folgen
in Brechts „Leben des Galilei"
HELMUTH KIESEL
Die Reaktionen auf die mathematische und teleskopische Plausibilisierung
der heliozentrischen Ordnung des Kosmos fielen, wie der voranstehende Auf-
satz zeigt, unterschiedlich aus. Während die einen - von Gryphius an - den
Fortschritt der Erkenntnis feierten und die metaphysischen Konsequenzen
der kopernikanischen Wende verkrafteten, indem sie die Vorstellungen von
Gott und Himmel weiter spiritualisierten, reagierten die anderen - bis hin zu
Nietzsche - phobisch, interpretierten die Destruktion des geozentrischen
Weltbilds gleich auch als Destruktion der theozentrischen Welt und sahen
sich im Nihilismus landen -: als völlig unbedeutende Kreaturen eines flüchti-
gen Moments in einem räumlich und zeitlich unabsehbaren kosmischen Trei-
ben, das nicht eben unter der Obhut eines Gottes zu stehen schien und dessen
Sinn nicht auszumachen war. Aber während der Pastorensohn Nietzsche noch
einmal den Verlust der Sinn- und Heilsgewissheit beklagte und die nihilisti-
schen Konsequenzen der kopernikanischen Wende eindrucksvoll ausmalte,
gewann die positive Wertung der kopernikanischen Wende die Oberhand. Für
die Vordenker des späteren 19. Jahrhunderts, für Comte, Marx, du-Bois-Rey-
mond, Dilthey usw., waren die Konsequenzen der kopernikanischen Wende
nur positiv: Durchsetzung des wissenschaftlichen Denkens; Befreiung aus
den Banden von Theologie und Kirche; Erkenntnis der Autonomie des Men-
schen.1 Eine abschließende und wirkungsreiche Kodifikation dieser moder-
nen Wertung der kopernikanischen Wende schuf Bertolt Brecht mit seinem
Drama ,Leben des Galilei', das zwar, wie der Titel anzeigt, Galileo Galilei zum
Helden hat, nichtsdestoweniger aber ein Stück über die kopernikanische
Wende ist, genauer: über deren wissenschaftliche Plausibilisierung und -
nicht unproblematische - gesellschaftliche Fruktifizierung.
Brechts Drama ,Das Leben des Galilei',2 das zwischen 1938 und 1956 ent-
stand, umfasst in seiner letzten Fassung, auf die sich die folgenden Ausfüh-
Vgl. Dienst, Kopernikanische Wende, Sp. 1096.
Zu den wichtigsten literaturgeschichtlichen Aspekten vgl. die umsichtigen Darlegungen von Rainer E.
Zimmermann im Brecht-Handbuch 1, S. 357-379, und den sehr informativen Kommentar zum Leben des