Das Weltbild des christlichen Glaubens
WILFRIED HÄRLE UND CHRISTIAN POLKE
Die biblischen Anfänge
Der biblisch-christliche Glaube beginnt nicht mit einem Weltbild, sondern
mit einem Geschichtsbild - genauer gesagt: sein Geschichtsbild ist sein an-
fängliches Weltbild.
Im Zentrum dieses Geschichtsbilds steht die Überzeugung, dass die Exis-
tenz und das Geschick des Volkes Israel bzw. der Nomadenstämme, aus denen
es hervorgegangen ist, sich der Erwählung und Berufung durch den Gott ver-
dankt, dessen Name durch das Tetragramm JHWH eher verschwiegen als be-
nannt wird. Am Anfang dieser Geschichte steht die Berufung Abrahams, dem
verheißen wird,„das Land" zu besitzen und ein großes Volk zu werden. In der
Gestalt des Stammvaters Jakob/Israel wird diese Verheißungslinie so weiter-
geführt, dass er als der Vater der Stämme dargestellt wird, aus denen dieses
Volk zusammenwächst und sich das verheißene Land erobert. In diesem Pro-
zess der Eroberung bzw. Einwanderung spielt die Gestalt Moses als des
großen Gesetzgebers, der im Namen Gottes das Bundesgesetz verkündet, eine
entscheidende Rolle.
Zugleich wird schon hier sichtbar, was die Geschichte Israels - biblischer
Darstellung zufolge - durchzieht wie ein roter Faden: der Wechsel zwischen
Hinkehr zu Gott und Abkehr von Gott, zwischen Hilfeschrei und Ungehor-
sam, zwischen Gottesverehrung und Abgötterei.
Im 7. und 6. vorchristlichen Jahrhundert wurden Israel und Juda von mäch-
tigen Nachbarvölkern überrannt und unterworfen, die das zentrale Heiligtum
in Jerusalem, den Tempel, zerstörten und die Oberschicht des Landes depor-
tierten. In dem groß angelegten deuteronomistischen Geschichtswerk der Bi-
bel wird diese Tatsache als die Strafe für den permanenten Abfall von Gott ge-
deutet.
Spätestens in dieser Exilszeit wird Israel bzw. Juda jedoch so intensiv mit
den Naturreligionen der assyrischen und babylonischen Nachbarvölker kon-
frontiert, dass die Frage unausweichlich wird, wie sich der Gott Israels zu den
Göttern der anderen Völker verhält und was Israel selbst den Weltentste-
hungsmythen und Schöpfungserzählungen anderer Kulturen und Religionen
entgegenzusetzen hat. Hier zeigt sich, dass der für den biblischen Glauben
WILFRIED HÄRLE UND CHRISTIAN POLKE
Die biblischen Anfänge
Der biblisch-christliche Glaube beginnt nicht mit einem Weltbild, sondern
mit einem Geschichtsbild - genauer gesagt: sein Geschichtsbild ist sein an-
fängliches Weltbild.
Im Zentrum dieses Geschichtsbilds steht die Überzeugung, dass die Exis-
tenz und das Geschick des Volkes Israel bzw. der Nomadenstämme, aus denen
es hervorgegangen ist, sich der Erwählung und Berufung durch den Gott ver-
dankt, dessen Name durch das Tetragramm JHWH eher verschwiegen als be-
nannt wird. Am Anfang dieser Geschichte steht die Berufung Abrahams, dem
verheißen wird,„das Land" zu besitzen und ein großes Volk zu werden. In der
Gestalt des Stammvaters Jakob/Israel wird diese Verheißungslinie so weiter-
geführt, dass er als der Vater der Stämme dargestellt wird, aus denen dieses
Volk zusammenwächst und sich das verheißene Land erobert. In diesem Pro-
zess der Eroberung bzw. Einwanderung spielt die Gestalt Moses als des
großen Gesetzgebers, der im Namen Gottes das Bundesgesetz verkündet, eine
entscheidende Rolle.
Zugleich wird schon hier sichtbar, was die Geschichte Israels - biblischer
Darstellung zufolge - durchzieht wie ein roter Faden: der Wechsel zwischen
Hinkehr zu Gott und Abkehr von Gott, zwischen Hilfeschrei und Ungehor-
sam, zwischen Gottesverehrung und Abgötterei.
Im 7. und 6. vorchristlichen Jahrhundert wurden Israel und Juda von mäch-
tigen Nachbarvölkern überrannt und unterworfen, die das zentrale Heiligtum
in Jerusalem, den Tempel, zerstörten und die Oberschicht des Landes depor-
tierten. In dem groß angelegten deuteronomistischen Geschichtswerk der Bi-
bel wird diese Tatsache als die Strafe für den permanenten Abfall von Gott ge-
deutet.
Spätestens in dieser Exilszeit wird Israel bzw. Juda jedoch so intensiv mit
den Naturreligionen der assyrischen und babylonischen Nachbarvölker kon-
frontiert, dass die Frage unausweichlich wird, wie sich der Gott Israels zu den
Göttern der anderen Völker verhält und was Israel selbst den Weltentste-
hungsmythen und Schöpfungserzählungen anderer Kulturen und Religionen
entgegenzusetzen hat. Hier zeigt sich, dass der für den biblischen Glauben