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Heidelberger Familienblätter — 1874

DOI Kapitel:
No. 35 - No. 43 (2. Mai - 30. Mai)
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noch anderen Worten; eine ungezügelte Induſtrioſität ſoll
an Stelle des bisherigen genau abgegrenzten, knappen
und ſtrammen preußiſch⸗deutſchen Ponſtdienſtes treten.
Von Stephan ſelbſt wird der Gedanke kaum herrühren,
ſonſt würden wir ihn fragen: Herr Generalpoſtdirector,
wollen Sie nicht auch einen Handel mit alten Kleidern
mit dem Poſtdienſt verbinden? Waare iſt Waare. Wir
betrachten den Fühler als Fühler und wollen dem Aus-
ſtrecker deſſelben das Zurückziehen erleichtern. Deßhalb
beleuchten wir den Gedanken in ſeiner ganzen Verderb-
lichkeit. Ein durch Staatsmonopol übermächtig geworde-
nes, überreiches Inſtitut, an deſſen Vortheilen und Laſten
die ganze Nation mitträgt, will ſich des durch Jahrhun-
derte alte, treue, mühevolle und kenntnißreiche Arbeit
eines beſtimmten Standes geſchaffenen und zu enoru
feiner Veräſtelung ausgebildeten deuiſchen Sortiments-
buchhandels bemächtigen, ihn mechaniſch weiterführen und
ſeine Vortheile genießen, die Mühe und Arbeit aber nach
wie vor dem bisherigen Packeſel von Sortimentsbuch-
händler überlaſſen. Und das Alles ohne Noth, ohne Be-
dürfniß, nur — nun weil es vielleicht einem ehrgeizigen
Kopfe gefällt, etwas noch nicht Dageweſenes zu leiſten.
Feſte Beſtellungen will die Poſt annehmen und ausfüh-
ren, alſo den mühevollen Gewinn einheimſen, aber das
eigentliche Vertreiben der Bücher, das mühevolle Verſen-
den zur Anſicht und andere Manipulationen, die den
Sortimentsbuchhändler zum Pionnier der Literatur ma-
chen, dafür wird ſie ſich bedanken. Sie wird dem Buch-
handel von dem Seinen nehmen, was fett iſt, das Ma-
gere wird ſie ihm laſſen. Und das nicht auf dem Wege
der freien Conkurrenz, durch Kampf der Geſchicklichkeit,
des Fleißes und der Inteligenz, ſondern durch erdrückende
Uebermacht mechaniſcher Kräfte. Ein unabſehbares Heer
von Einwürfen drängt ſich dem Kundigen auf! Die Poſt
mißbraucht ihre billige Arbeitskraft, dem Andern das
Brod zu nehmen (ſie nimmt feſte Beſtellungen gegen
baare Bezahlung an), ſie dient damit nicht einem Bedürf-
niſſe (jede Buchhandlung thut ein Gleiches mit Vergnü-
gen ebenſo raſch und billig), ſie erleichtert nicht den lite-
rariſchen Bezug (ſie läßt ſich voraus bezahlen), ſie weist
nicht Verleger und Bezugsquelle nach (ſonſt müßte jeder
Poſtbeamte gelernter Buchhändler ſein), ſie hat nicht Ge-
duld in Vorſchlag und Zurücknahme, ſie gibt nicht Credit,
ſie bringt keine neue Literatur in's Volk (das Anſicht-
ſenden ſoll ja nach wie vor dem Buchhändler verbleiben),
es iſt alſo gar kein wirthſchaftlich humaͤner oder gar ethi-
ſcher Gedanke, der das ungeheuerliche Projekt ausgebrütet
hat, ſondern bloß das Gefühl der rohen Maſſenhaftigkeit
billiger Arbeitskräfte, die auch noch nebenbei ſo ein Bis-
chen Verdienſt mitnehmen könnten. Der Plan müßte
ſchon daran ſcheitern, daß das Publikum an ſeinen alle-
zeit dienſtfertigen Buchhändler ganz andere Anforderun-
gen zu ſtellen gewohnt iſt, als ſie der Poſtbeamte, ſelbſt
beim beſten Willen, erfüllen könnte. Aber geſetzt den
Fall: die Poſt riſſe einen bedeutenden Theil des Bücher-
verkaufs an ſich, ſo läge unter einem minder vorurtheils-
freien Regiment die Gefahr nahe, daß dieſelbe nach Fä-
den, die von oben langen, handeln und, je nach der an
maßgebender Stelle herrſchenden Strömung, gewiſſe Rich-

tungen der Literatur entweder begünſtigen oder hindern

könnten, wodurch wir zu einer neuen Art von Zenſur
gelangen würden. Ferner könnte man es mit der Zeit
leicht vortheilhafter finden, Bücher und Zeitſchriften ſelbſt
zu verlegen, ſtatt dieſelben den Verlegern abzukaufen, und
könnte ſo durch die der Poſt auf Koſten der Steuerpflich-
tigen zu Gebote ſtehenden enorm billigen Betriebsmittel
den Buchhandel nach und nach ganz monopoliſiren. End-
lich käme man vielleicht noch darauf, für Rechnung des
Poſtfiskus auch andere Geſchäftszweige, z. B. ein Tabaks-
monopol, welches ja manche Staaten haben, zu betreiben,

warum nicht auch, wie oben vorgeſchlagen, einen Handel
mit alten Kleidern? Solch ein Gedanke iſt zu brutal,
zu unförmlich und ungegliedert für ein Land mit ſo fein
ausgebildetem, ſo trefflich organiſirtem Buchhandel, wie
Deutſchland; das mag für England gut genug ſein, für
Deutſchland nicht. Deßhalb war es vielleicht nicht un-
paſſend, dem Keime ſcharf zu Leibe zu gehen, ehe er
wächst und groß wird. Nichts für ungut, Herr Gene-
ralpoſtdirecter! (Dah.)

Zur Geſchichte der Wiener Gründungen.

Das Börſentreiben in Wien wird prächtig durch
einen Prozeß illuſtrirt, welcher ſeit dem 4. Mai vor dem
Schwurgericht in Wien verhandelt wird. Wir geben aus
den Berichten Dasjenige, was von allgemeinem Intereſſe
iſt. Die am Lugeck etablirte Börſencomptoirfirma M.
Tonelles u. Comp., repräſentirt durch Max Tonelles, aus
Wien gebürtig, 23 Jahre alt, Commis; Moriz Schwarz,
aus Peſt gebürtig, 27 Jahre alt, Tiſchler, zuletzt Galopin
ohne Vermögen; Karl Pockh, aus Wien gebürtig, 26

Jahre alt, Commis, bereits zweimal abgeſtraft, hatte am

10. Januar d. J. nach einem dreimonatlichen Beſtande
ihre Zahlungen eingeſtellt, und die Firmarepräſentanten
zogen es vor, ſich der Verantwortung durch die Flucht
zu entziehen. Später ſtellten ſie ſich ſelbſt dem Straf-
gerichte; es wurde die Unterſuchung eingeleitet und dieſe
führte zur Anklage wider dieſelben wegen Verbrechens
des Betruges. ö
Der vom Schriftführer vorgetragenen Anklageſchrift
entnehmen wir: Karl Pockh, 1867 wegen Betrugs durch
Wechſelfälſchung zu 18 Monaten, 1870 wegen betrüge-
riſcher Eincaſſirungen zu 2 Jahren ſchweren Kerkers ver-
urtheilt und des Adels verluſtig erklärt, aſſocirte ſich im
October v. JS. mit dem Buchhalter Max Tonelles zur
Errichtung eines Börſencomptoirs. Dieſes Geſchäft wurde
ohne den geringſten Fonds errichtet; zur erſten Anſchaf-
fung der Comptoireinrichtung und Zahlung des Zinſes
lieh Tonelles von der ehemaligen Dienſtmagd ſeiner Mut-
ter, Thekla Kubs, 150 fl., welcher Betrag niemals zu-
rückerſtattet wurde. Auf Pockh's Vorſchlag wurde die
Firma mit dem Namen Tonelles u. Comp. bezeichnet und
in die Welt hinauspoſaunt, mit welch rieſigen Glücks-
gütern die Familie Tonelles geſegnet ſei. Ende December
v. Js. erſchien ein Inſerat unter dem Titel: „Finanz-
miniſter M. Tonelles in einem illuſtrirten Blatte, in
welchem der jetzige Finanzminiſter verunglimpft und dem
Max Tonelles in halb ſcherzhaftem, halb ernſtem Tone
ob „wirklicher und wahrhafter Effectenbelehnung“ das
Prognoſtikon eines künſtigen Finanzportefeuillers geſtellt,
und eine Weihnachtsbeſprechung in etnem politiſchen Wo-
chenblatte, in welchem in ſpeichelleckeriſcher Manier dem
„Bankier“ Tonelles Weihrauch geſtreut wird. Das Comp-
toirperſonal, beſtehend aus dem Caſſirer Joſeph Gaſchler,
der unter der Bedingung von Pockh aufgenommen wurde,
daß er vom Börſengeſchäft nichts verſtehe, der Galopin

Moritz Schwarz und der Diener Franz Schachinger, er-
erhielt von K. Pockh den gemeſſenen Auftrag, jenen Par-

teien, welche zur Belehnung der Effecten erſcheinen wür-
den, dieſe mit der Mittheilung abzunehmen, daß ſie zu
Tonelles' Mutter ins Depot kämen, die auch die Beleh-
nungsſumme vorſchießen würde, ſich mit den Effecten zu
entfernen, ſie ſofort zu veräußern, von dem Erlös den
Parteien 80 Procent des Courswerthes „als Belehnungs-
ſumme“ auszuzahlen und den Ueberſchuß in die Caſſe
des Geſchäftes zu hinterlegen. Sollten jedoch die Par-
teien in Folge des langen Wartens ungeduldig werden,
 
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