Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Heidelberger Familienblätter — 1874

DOI Kapitel:
No. 96 - No. 103 (2. December - 30. December)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.43704#0413

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

. 102.

Mittwoch, den 23. December.

1874.

Der Wurzengraber.

Erzählung aus den bairiſchen Bergen. Von Th. Meſſerer.

(Fortſetzung.)

Leichtfüßig wie eine Gemſe und friſch wie das mor-
genduftige Grün um ſie her ſprang ſie den ſchmalen Steig
ober der Hütte hinauf. Wie von einem Alp befreit ath-
mete die junge Bruſt auf und heller leuchteten die lieben
Augen, als ſie mit glückſtrahlendem Geſichte über die un-
abſehbare Berglandſchaft hinſchaute. Wie war es hier
oben jetzt ſo wunderbar ſchön, wie fühlte ſie ſich mit
einem Mal ſo frei und leicht, als wären ihr Flügel ge-
wachſen! Ein nie gekanntes Gefühl der Beklemmung
hatte das unſchuldige Herz ſchon Tage lang gequält, wie

eine ſchwere Schuld hatte ihr die Seele wund gedrückt,

daß dem Vater verborgen ſein ſollte, was ihr ganzes
Innere mit unausſprechlicher Wonne durchſchauerte, was
ihr Gemüth bewegte an Luſt und Leid.
war früh geſtorben, ſo lange ſie denken konnte, hatte ſie
ſich an Niemand angeſchmiegt, als allein an dieſen Vater,
der ſie mehr liebte, als irgend etwas auf der Welt. Nun
hatte ſie ihm Alles entdeckt, und wie ſchwer ihr diesmal
die kindliche Offenheit auch geworden, ſo froh und ſelig
war ihr jetzt zu Muthe. Es war, als ob die mächtig
anſtürmende Liebes fluth, die zwiſchen hemmenden Däm-

men aufgeſtaut war, nun in ruhigerem Wellenſchlag be⸗—

glückender das jugendliche Herz durchſtröme. Und nicht
einmal ernſtlich gezürnt hatte der gute Vater, ja ſogar
ein Lächeln hatte ſie mit einem Seitenblicke erhaſcht. Er
nahm es alſo nicht böſe auf, daß ihr der Flori gut war
und ſein zorniger Ausruf, der ſie erſchreckt, hatte dem
Tirolerhies gegolten, der auch ihr ſo zuwider war. In
ihrer Glückſeligkeit hätte ſie jeden Baum umarmen, jeden
nickenden Grashalm küſſen, hineinjubeln mögen in den
kühlen dunklen Wald. Sie konnte jetzt nicht ruhig hier
bleiben, ſie mußte fort, weit hinauf an eine Stelle, wo
ſie mit ihrem Glücke ganz allein war, um es nach Her-
zensluſt hinauszujauchzen, aus der übervollen Bruſt.
Schon ſchlug ſie den Weg nach der Friedlalm ein, als
ein gellender Pfiff des Vaters, der nach ihr ausſchaute,
ſie zurückrief. ö
Die Arme auf der Bruſt gekreuzt, war der Alte
wiederholt mit ſich zu Rathe gegangen, was nach dem
Vorgefallenen wohl nun das Beſte für das Kind ſei, und
er kam immer wieder zu dem Schluſſe, daß er vorerſt ein
ernſtes Wort mit dem jungen Burſchen reden, gegen
Chriſtel aber ſchweigen müſſe. Er hatte das Mädchen
viel zr lieb, als daß er in das vertrauenvolle junge Herz
hätte den Stachel des Zweifels drücken und dieſes auf-
blühende reine Glück durch den erſten Schatten hätte trü-
ben mögen. Durch ihn wenigſtens ſollte ihr keine Hoff-
nung im Keime geknickt, die junge Herzensfreude nicht
mit rauher Hand berührt werden. ö
Noeben dieſer Hauptſorge beſchäftigte ihn bald ein anderes,
unter Umſtänden kaum minder wichtiges Anliegen. Haſtig
griff er in alle Taſchen und die vollkommene Ebbe in ſeiner

Ihre Mutter

Kaſſe war nicht geeignet, ſeine Laune roſiger zu färben. Hatte
Hannes keinen Groſchen mehr in der Taſch und, was
ihm noch empfindlicher war, auch kein Körnlein Pulver
mehr zu einer ordentlichen Ladung, verfiel er in die un-
gemüthlichſte Stimmung und konnte die ganze Welt zum
Teufel wünſchen. Schon wollte ihm etwas Derartiges
zwiſchen die Zähne und ein Büſchel Haare zwiſchen die
Finger gerathen, als er einen Ausweg aus ſeiner Be-
drängniß erblickte. Dort in der Ecke neben dem Heerde
lag ein großer Haufen Kräuter und Wurzeln, und brachte
er den nach Tölz, konnte er ſich für den Augenblick we-
nigſtens ſeine kleinen Bedürfniſſe wieder anſchaffen. Ein
Bretlerfloß hing auch ſchon unten in der Jachen, das
morgen mit Tagesanbruch auf der Iſar an Tölz vor-
über nach München gehen ſollte.
Zaghaft kam Chriſtel auf ſeinen Pfiff zurück. Sie
wagte kaum auſzuſchauen, aus Furcht, der Vater möchte
ſie mit neuen Fragen beſtürmen oder gar inzwiſchen ſei-
nen Sinn geaͤndert haben und ſie über das Vorgefallene
tüchtig ausſchelten.
„Da greif zu, Chriſtel,“ ſagte aber der Wurzen-
graber mit der gleichgültigſten Miene — „richt' die Waar'
ordentlich zuſammen und pack' Alles in's Heutuch. Das
muß morgen in aller Früh hinunter auf's Floß, und
wenn Du fertig biſt, kochſt uns einen Schmarn, ſo viel
Mehl und Schmalz muß noch da ſein. Nachmittag gehſt
gleich wieder hinaus und ſuchſt was G'ſcheiter's als das
G'lump da.“ Damit winkte er mit den Augen gering-
ſchätzig nach den am Boden zerſtrenten Blumen und
machte ſich dann wieder mit ſeinem Stutzen zu ſchaffen.
Froh aufathmend breitete Chriſtel geſchäftig das
große Heutuch aus, und wie oft ein Kind nach unbe-
ſtraftem Fehltritt durch Zuvorkommenheit und rührenden
Eifer ſich dankbar zu zeigen ſucht, überbot ſie ſich den
Tag über in unermüdlicher Emſigkeit und wollte es ſich
am nächſten Morgen, als kaum noch der grauende Tag
ſeinen erſten Dämmerſchein in die Hütte warf, nicht neh-

men laſſen, den großen Pack ſelber in die Jachen hinun-

terzubringen. Doch mit den Worten: „Laß's gut ſein
Chriſtel, könnt'ſt eine ſchöne Himmelfahrt machen, den
Staffel hinunter,“ lud Hannes ſich die Laſt auf den
Rücken und machte ſich auf den Weg.
Die letzten Sterne begannen allmälig zu erbleichen
vor dem gluthrothen Streifen, der im Oſten immer breiter
heraufzog, als Chriſtel noch auf einem Feſsvorſprunge
ſtand. Der friſche Morgenwind ſpielte in dem aufgelöſten
dunklen Haare, das in reicher Fülle ihre Schultern um-
floß, und verſuchte, ihr das locker um den Hals geſchlun-
gene Tuch zu entführen, als ſie mit vorgeſtrecktem Ober-
körper in das Flußthal hinabſchaute, um vielleicht das
Floß abfahren zu ſehen. Den dicken Morgennebel aber,
der noch unbeweglich über dem Strome hing, konnte
ſie nicht durchdringen, und bald kehrte ſie zur Hütte
zurück.
Raſcher als ſonſt hatte ſie heute die prächtigen Zöpfe
geflochten und um den Kopf gewunden, und nachdem ſie
ſchnell noch ihren Hut, von dem ſie erſt das Sträußchen
nahm und ins Mieder ſteckte, auf das Haar gedrückt,
verließ ſie mit Korb und Haue eilig die Hütte. Sie
war ſchon oft aklein geblieben, aber ſo ſeltſam unheimlich
 
Annotationen