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Heidelberger Familienblätter — 1874

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No. 35 - No. 43 (2. Mai - 30. Mai)
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er Familie nblätier.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

35.

Samſtag, den 2. Mai.

1874.

Meberwunden.
ö Novelle von S. v. d. Horſt.
(dortſetzung)
Der Prediger ſtreichelte leiſe die geſenkten Wangen

des Mädchens und ſah mitleidig lächelnd auf ſie herab.
„Toni,“ ſagte er, „Dein Vater iſt im — Irrthum be-

fangen, das habe ich ihm ſelbſt geſagt, konnte aber nichts

für Dich und den Verſtoßenen ausrichten. Daß Gott-
hold zeitweilig verſucht, auf eigenen Füßen zu ſtehen, ſich
auf ſeine perſönliche Tüchtigkeit ſtützen zu müſſen, wenn
er leben will, das ſchadet ihm nicht, iſt vielmehr unum-

gänglich nöthig für jeden jungen Mann ohne Ausnahme,

wer er ſei! hätte ihn Dein Vater als Bräutigam ſeiner
Tochter anerkannt und eine künftige Correſpondenz erlaubt,

ſo würde ich das freundlicher und gerechter genannt ha-

ben, als ſeine gegenwärtige Handlungsweiſe; aber, wie
geſagt, ich konnte nichts für Euch thun. Dem Gotthold
erlaubte ich jedoch, mir ſo oft zu ſchreiben wie er Luſt
hat und Dich, meine kleine Verzweifelte, lade ich ein, mich
recht häufig zu beſuchen, wo ich Dir dann ſeine Briefe

vorleſen werde und zwar ſoll Dein Vater hiervon Kennt-
niß erhalten, damit Du nicht glaubſt, daß ich Dich zum

Ungehorſam, zu Heimlichkeiten verleiten will.“ ö
„„Dein eigenſinniger Vater kennt mich; er weiß, daß
ich Alles bekämpfe, was mir unrecht oder unbarmherzig
erſcheint, tapfer und unermüdlich bekämpfe, aber mit offe-
nem Viſir! ich nenne es grauſam, Dir alle ferneren Nach-
richten über Gotthold's Schickſal entziehen zu wollen, darum

werde ich Dir erzählen, was er mir ſchreibt und das kann

ſelbſt der alte ſtarrköpfige Mann nicht verhindern. Ich
wills ihm noch heute anzeigen.“

„Ach Herr Pfarrer,“ rief unter Thränen lächelnd

das Mädchen, „wie danke ich Ihnen, Sie geben mir neuen
Muth zum Leben! ach ich hielt ja ſchon Alles verloren
und nun ſchickt mir der liebe Himmel einen Freund, wo
ich mich doch ganz verlaſſen glaubte!“ ö
Der Geiſtliche legte die Hand auf Toni's blonden
Scheitel. „Zieh daraus die Lehre Kind,“ ſagte er freund-
lich ermahnend, „daß ſchwachgläubiges Verzagen Sünde
und Thorheit zugleich iſt. Warte die richtige Stunde ab
und vergiß nie, daß Dein Geſchick in treuer weiſer Hand
ruht; wie es nun kommen möge, zu Deinem wahren Be-
ſten wird es gewißlich ſeinnn
„Wie danke ich Ihnen, o wie herzlich danke ich
Ihnen!“ ö 111
„Am kommenden Sonntag nach der Meſſe ſprich
nur bei mir an, kleine Toni, vielleicht habe ich dann ſchon
einen Brief von unſerem Verbannten! ſei Du ganz ruhig,
mein Liebling! überall wo Menſchen leben, wird Brod

gebacken — auch für den Gotthold, um deſſen Fortkom-

men ich keinen Augenblick beſorgt bin. Nun zeige mir
einmal wieder Dein altes Geſicht, Toni! — na, ſieh

Er hob das geſenkte Köpfchen mit freundlicher Ge-

walt zu ſich empor und ſah voll erbarmender Liebe in
die blauen thränenglänzenden Augenſterne.

Willſt Du
nicht mehr weinen, Toni?ꝰ
„Ach Herr Pfarrer, es kann Einer gar nicht ſo ver-
zagt bleiben, wenn Sie ihn tröſten! — mir iſt, als hätte
ich den Gotthold halbwegs wieder zurückbekommen!“ flü-
ſterte das Mädchen.
„Du ſollſt ihn, gefällts Gott, ganz wieder haben,

Toni! — nun leb wohl und grüße den Vater, mein
Liebling!“ ö

Pater Clemens entfernte ſich mit dem üblichen Se-

gen der katholiſchen Geiſtlichen und das Mädchen kehrte

neu ermuthigt, voll wiedererweckter Hoffnung in die Mühle
zurück. Zum erſten Male ſeit jenem Unglücksabende er-

ſchien ihr die Zukunft nicht ſo grabesdunkel, ſo ganz

verloren; das drückende Gefühl der Verinſamung war ja
von dem jungen Herzen genommen; ein Vertrauter, ein —
Beſchützer gefunden und Toni athmete auf, wie aus ſchwe-

ren Banden erlöſt. Was der fromme, gottesfürchtige

Geiſtliche, ihr Beichtvater, ſagte und that, das konnte ja

nie Sünde ſein.
„RKomm Diana, komm, Sonntag hören wir vom
Gotthold?s ** en —

Auf der Mühlenbrücke, vorn zwiſchen Rad und Teich,

lagen Haufen von ſchwarz und weiß geſtreiften, zum Theil

mit rothen Schildern verſehenen Stangen, Ketten, Tau-
werk und Holzpflöcke. Mehrere Männer in den Kleidern

gewöhnlicher Arbeiter ſtanden daneben und drinnen im

beſten Zimmer
Müller.. ö
Er hatte ſich vorgeſtellt als beeidigter Landmeſſer
und erbat ſich die Erlaubniß, nach Bedarf den Grund
und Boden des Müllers zu Vermeſſungszwecken betreten
zu dürfen.
Der alte Steffen konnte im Allgemeinen die Städter

unterhielt ſich ein Herr mit dem alten

nicht gut leiden, war überhaupt in der widerſpenſtigſten
Stimmung von der Welt und freute ſich allemal, wenn

er Jemand grob anlaſſen durfte. Seit des Gotthold's
Auszug ging ihm Alles quer; der zweite Meiſtergeſelle
war ihm bereits wieder fortgelaufen, die Mahlſteuer kürz-
lich um einige Prozente erhöht, am Rade die Speichen

gebrochen durch den übermäßigen Waſſerzudrang, der

Teich ausgetreten, ſo daß die Fluth auf die große Vor-
diele lief und ſo und ſo viele Mehlſäcke durchnäßte —

alles Dinge, die einen leidenſchaftlichen Charakter bis zum

Tollwerden erbittern können und den alten Müller völlig

zum Menſchenfeind machten.

Der Ingenieur ſaß im Sopha, der Müller ſtand

trotzig mit der Pfeife im Munde vorm Fenſter und tromm

melte die Melodie von „Lützow's wilder verwegener Jagd.“

Das war aber ſein Sturmmarſch, wer ihn kannte, der

wußte, daß nun ein Gewitter im Anzuge ſein mußte.

Der Fremde ſprach in ausländiſchem Dialécte, fragte jeden
Augenblick nach, wenn er den Alten nicht verſtand, trug

Glacé-Handſchuhe und flocht Fremworte in ſeine Rede,

lauter Dinge, die der Müller für den Tod nicht lei
den konnte. ᷣ•
 
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