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Heidelberger Familienblätter — 1874

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No. 35 - No. 43 (2. Mai - 30. Mai)
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Heidelberger Lamilienblätter.

Veletriſiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

AI. Samſtag „ den 23. Mai. 1874.

Ueberwunden.
Novelle von S. v. d. Horſt.

CFortſetzung.)

Das Mädchen nahm den Weg wieder auf und überall
erneute ſich das eben Erlebte; jeder kleinen Eigenart der
Gegenſtände, der unbedeutendſten Nebenſachen erinnerte
ſich der Blinde, an Allem überzeugte er ſich, daß doch
ſeine Mühle noch ſtehe, daß er wirklich zu Hauſe ſei.
Die beiden Lehrlinge hörte er ſprechen und erkannte mit
großer Genugthuung ihre Stimmen; das freuudliche Be-
grüßen und Bewillkommnen des Hofhundes machte ihn
förmlich heiter.
„Toni, morgen gehſt Du mit mir in's Dorf. Einige
Freunde habe ich ja noch, die möchte ich gern einmal
Mbor en! das heißt,“ verbeſſerte er ſich, „mit ihnen
reden.“ ö ö
„Gewiß, mein guter Vater, gewiß! und Niemand
iſt Dir gram, Alle nehmen herzlichen Antheil an Deinem
Unglück, den ſchlimmen Prozeß haben ſie vergeſſen.“
„Soll denn keine Bahn gebaut werden, Toni? ſoll
ganz gewiß die Mühle ſtehen bleiben?“
„Ganz gewiß und beſtimmt, Vater! die Bahn läuft
daneben. Du könnteſt Dir ſo leicht Gewißheit verſchaffen
durch ein Geſpräch mit dem Ingenieur; ohnehin mußt
Du ja den Verkauf des Kartoffelfeldes abſchließen, oder
doch wenigſtens ſagen, ob Dir das genug iſt, was die
Bahngeſellſchaft als Entſchädigungsſumme geben will! —
Pater Clemens durfte es nicht in Deinem Namen thun,
während Du krank warſt.“
„Ich? ich?“ murmelte der Müller, „ein Blinder
kann nicht mehr befehlen oder anordnen!“
„Alles; beſter Vater! wer ſollte Dich auch bevor-
munden? Dich, den klügſten im Dorfe, den Rathgeber
in jeder Verlegenheit!“
„Ja, Toni ja, das iſt nun vorbei; ich muß jetzt

bitten, nur immer bitten und wer nicht will, wie ich es

möchte, der lacht mich aus.“
Das Mädchen wußte nicht mehr, was ſie dem alten
verbitterten mißtrauiſchen Manne entgegenhalten ſollte
und bat daher den Pater Clemens, ſie folgenden Tages
auf dem Wege in's Dorf zu begleiten. Es war ihr etwas

ö beängſtigend, den Bauern zuerſt wieder von Angeſicht zu
Angeſicht gegenüberzutreten; man konnte nie wiſſen,

wozu die beleidigte Habſucht, dieſer Hauptcharakterzug des
Bauern, die Leute hinreißen werde. pic Ing

Der Geiſtliche erklärte ſich mit Freuden bereit und
langſam wanderte die kleine Caravane in's Dorf hin-

unter; in der Mitte der Müller, von beiden Seiten ge-

führt durch ſeine hübſche blaſſe Tochter und den hochge-

wachſenen ernſtblickenden Prieſter; ein ergreifendes Bild
für Jeden, der den alten Mann früher gekannt, als er
noch mehr Anſehen und Reſpect beſaß wie ſelbſt der
Schulze, der ihm nun ſo ganz verfallen, abhängig
gleich einem kleinen Kinde wiederſah.

Manche Hand ergriff die Seine und ſchüttelte ſie,
ohne daß der Eigenthümer ein Wort häkte ſprechen kön-
nen. Alle bewillkommten ſie ihn nach dem ſchweren
Krankenlager mit aufrichtiger Herzlichkeit, eine unfreund-
liche Erinnerung bewahrte Keiner.
„Ihr habt Glück gehabt Müller, Ihr und der alte
Schwarz!“ hieß es, „wir müſſen ſämmtlich das Land
hergeben, was uns für keinen Gewinn feil war, nur Ihr
behaltet die Mühle und der Einarm ſpringt bodenhoch
vor Vergnügen!“
„Schwarz? wie ſo denn der?“ fragte der Müller,
„was iſt ihm geſchehen?“
Toni und der Geiſtliche ſahen einander an. Sie
hatten bisher beide aus Zartgefühl wie in ſtummer
Uebereinkunft verſchwiegen, was jetzt ſo plötzlich an den
Tag kam; nun ließ ſich nichts mehr daran ändern.
„Na, Müller, wie ihr fragt! der alte Schwarz hat
ja doch für den Landſtreifen, den Ihr ſelbſt ihm damals
geſchenkt, ſeine runden zehntauſend Thaler eingeſtrichen!
Die Bahnlinie konnte nach genaurer Vermeſſung und mit
geringen Veränderungen der Anlage, an Eurer Muͤhle
vorübergeführt werden. — Schwarz aber verkaufte na-
türlich von Herzen gern!“
Der Blinde ſah ſehr erſchreckt aus. „Zehntauſend
Thaler!“ wiederholte er langſam, „gerade Zehntauſend!“
Toni ſchmiegte ſich zärtlich an ihn. „Lieber Vater,“
flüſterte ſie, „die Zehntauſend gehören ja dem Alten,
nicht dem — nicht — ich meine —“
„Nicht dem Gotthold!“ ergänzte aufathmend der
Müller. „Freilich, freilich, das iſt wahr! komm Toni,
wir wollen noch weiter gehen.“ ö
Der Weg wurde fortgeſetzt und überall fand der
Blinde das Gleiche, traf er auf ein freundliches Ent-
gegenkommen. Seine Hauptſorge war gründlich beſeitigt,
er durfte ſich factiſch überzeugt halten, daß er wirklich zu
Hauſe in der eigenen Mühle ſei. Das ganze Dorf mit
wenigſtens zwanzig alten Bekannten hätte ſich ja nicht,
ihm zu Gefallen, an anderem Orte wieder vorfinden
können, das ſah er ein, trotz aller quälenden Zweifel.
Auch das gute nachbarliche Verhältniß war wieder her-
geſtellt, die Furcht vor dem angedrohten Abbruch der
Mühle gehoben.
Auf dem Heimwege war der alte Mann ordentlich
geſprächig, ſo wohl fühlte er ſich zum erſten Male ſeit
jenem Schreckenstage, als das Urtheil der Oberinſtanz in
ſeine Hände gelangte. ö
Pater Clemens ermunterte ihn, ſo viel er vermochte
und blieb den ganzen Tag bei ihm.
„Müller, da Ihr nun durchaus geſund ſeid, ſo
könntet Ihr wohl die Oberleitung Eures Geſchäftes wie-
der übernehmen, nicht wahr?“ fragte er; Toni kann Euch
ſagen, ob die Angaben des Meiſtergeſellen richtig ſind

und er liefert dann ferner das eingenommene Geld an

Euch ab. Ich habe es herzlich gerne gethan, doch natür-
lich nur ſo lange, als Ihr ſelbſt unfähig waret.“
„Das thatet Ihr? Herr Pfarrer wirklich Ihr
ſelbſt?“ rief gerührt der Blinde. „Ihr, ein gelehrter

Herr, ließt Euch herbei, Mehlſäcke zu zählen, Pfunde ab-

zuwägen, nachzumeſſen?“
 
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