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Heidelberger Familienblätter — 1874

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No. 96 - No. 103 (2. December - 30. December)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43704#0403

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— 395 —

in die Hand, ſchnell wird noch eine Wagenthür aufge-
macht, der Paſſagier hineingeſchoben, der Riegel knarrt
hinter ihm und fort geht's. Der Reiſende ſieht ſich allein

in dem ſchmalen, matt beleuchteten Coupee. Von Natur

ängſtlich, hat er noch nie eine Reiſe allein gemacht, auf
die kürzeſte Strecke muß ihn ein guter Freund begleiten;
doch diesmal war derſelbe erkrankt und der Zaghafte
mußte die Fahrt allein antreten.
Die Fahrt in einem einſamen Coupee kann auch bei
dem Beherzteſten unheimliche Gedanken erwecken und bei
dem von Natur aus furchtſamen Paſſagier ſtellen ſie ſich
auch ſofort ein.
ſeltſamſten Schreckensgeſpenſter durch ſein armes gemar-
tertes Gehirn, er träumt von Räubern und Mördern,
Aund wenn der wohlthätige Schlaf ihn von dieſen Angſt-
bildern befreien will, taucht vor ſeinem umflorten Blicke
eine neue Spuckgeſtalt auf und raupt ihm die erſehnte
Ruhe. ö
Endlich macht die Müdigkeit ihr Recht geltend, der
Selbſtgequälte iſt in eine Art von Halbſchlummer ver-
ſunken, da wird die Waggonthür plötzlich aufgeriſſen,
der Kondukteur erſcheint, ſtammelt Worte der Entſchul-
digung, daß kein anderer Ausweg möglich, er müſſe ihm
einen Reiſegefährten anweiſen. Eine vierſchrötige Geſtalt
ſchiebt ſich, ſoweit es das Dunkel der Nacht erkennen läßt,
in's Coupee und nimmt dem Furchtſamen gegenüber Platz.
Einige Augenblicke ſpäter und der Zug raſt weiter.
Der ängſtliche Paſſagier hat nun Gelegenheit ſeinen
Reiſegefährten zu muſtern. Die Erſcheinung des Frem-
den entfeſſelt von Neuem die bereits gebannten Schreck-
geſpenſter. Der Angekommene iſt eine herkuliſche Geſtalt,

die Augen blitzen in unheimlichem Feuer, ein zottiger

Bart umrahmt das blutunterlaufene Geſicht, die maſſiven
Hände liegen ſcheinbar ruhig auf dem Schooße; doch wer
ſchildert das Entſetzen des unglücklichen Paſſagiers, als
er Blutflecken an demſelben enkdeckt. Die Haare ſteigen
dem Armen zu Berge, die Zähne klappern vor Augſt zu-
ſammen, kein Zweifel, der Kerl, der ſich in das Coupee
geſchlichen, iſt ein Räuber oder Mörder und ein Kampf
auf Leben und Tod iſt unvermeidlich.
In dieſem bangen, qualvollen Momente gedenkt der
ſeinem unheimlichen Gegenüber rettunglos Verfallene des
guten Freundes, der ihn ſonſt auf allen Fahrten begleitete,
er zieht eine Viſitkarte aus der Taſche und mit zittern-
der Hand wirft er die Worte auf's Papier: „Mein Freund
W. . . iſt unſchuldig, er iſt nicht mit mir gefahren, ich
bin als Opfer meiner Unvorſichtigkeit gefallen, betet für
meine arme Seele,“ öffnet ſodann leiſe das Waggonfenſter
und ſchleudert eine Karte hinaus.

„Machen Sie das Fenſter zu!“ brüllt in dieſem

Momente der Paſſagier mit einer Stentorſtimme, welche
dem Reiſenden keinen Zweifel mehr darüber läßt, daß
ſeine letzte Stunde geſchlagen. In dieſer Angſt hofft der
Wr⸗ite auf Rettung durch den Gebrauch einer Noth-
üge. ö
„Mein Herr“ — beginnt er mit zitternder Stimme
— „Sie ſehen einen Unglücklichen vor ſich, dem ein gro-
ßes Malheur paſſirt iſt. In der Eile, den Zug nicht zu
verfehlen, gelang es einem Gauner, mir die Brieftaſche
zu ziehen, ich habe keinen Kreuzer Geld in der Taſche
und weiß mir gar nicht zu helfen, wenn ich in Linz an-
gelangt bin, wie ich es anſtelle, um dann weiter zu
kommen.
„Haha, haha,“ brüllte der Angeſprochene mit ſo
mächtiger Stimme, daß die trübe angelaufenen Scheiben
des Waggonfenſters mit dem Furchtſamen um die Wette
zittern — „wer eine ſolche ſchwere Kette trägt, die Finger
mit Ringen beſteckt hat und mit dieſer Rieſenbrillantnadel

flunkert, dem braucht um ſein Fortkommen nicht bange zu

Gleich einer wilden Jagd rollen die

geboten worden wäre.

bieten, ſondern als Vergütung beanſpruchen.

ſein — da könnte man einen todtſchlagen, wenn man
dieſe Pretioſen erwiſchen könnte.“ ö
auf und ruft wie abwehrend: „Ich gebe Ihnen die Ver-
ſicherung, daß Alles falſch iſt; die Kette Talmigold, der
Brillant, der Buſennadel gewöhnliches Glas, ich ſchwöre

Ihnen bei meinem Seelenheil, die ganze Paſtete iſt keine

zwei, Gulden werth.“
5Schon gut,“ brummte der Andere, „mich geht's ſo
nichts an,“ reißt dabei die Glotzaugen auf, um ſie dann
ſofort zu ſchließen und alsbald im tiefſten Baß zu ſchnar-
chen. Reine Verſtellung — denkt ſich der Pretioſenbe-
ſitzer, er ſimulirt den Schlaf, um mich einzulullen und
dann um ſo ſicherer über mich herzufallen, aber ſo ohne
Weiteres laſſe ich mich nicht abſchlachten. „Mit den
Worten: „Mein Herr! ich reiſe nie ohne Waffen,“ rüt-
telt er den Schläfer auf. Dieſer erhebt ſich unwillig und
ſchreit: „Was wollen Sie?“ worauf der Paſſagier ein
großes Taſchenmeſſer herauszieht, die breite Klinge öffnet
und ſagt: „Sehen Sie mit dieſer Waffe vertheidige ich
mich, wenn mich Jemand anfallen will.“ „Da bin ich
beſſer ausgerüſtet,“ fällt der aus dem Schlafe Geweckte
ein, langt unter die Bank und in demſelben Momente
blitzt ein rieſiges Schlachtmeſſer vor den Augen des Ent-
etzten. ö
„Gnade, Barmherzigkeit, ſchonen Sie mein Leben, ich

Hebe Alles her!“ ruft der zu Tod Geängſtigte und fällt
vor dem Fürchterlichen auf die Kniee.

„Herr, ſind Sie verrückt worden,“ unterbrach der
unheimliche Paſſagier den um Schonung Flehenden, ich
bin der Fleiſchhauer Binder aus Linz, und wer ſind Sie,
der Sie mich für einen Mörder halten?“ ö
„Verzeihung für das Mißverſtändniß“ — ruft der

ö von einem Alp Befreite, — ich bin der Hofſchauſpieler

Beckmann aus Wien.“
Dieſe wahrheitsgetreue Anekdote aus dem Leben des

großen Känſtlers iſt wohl ſchr bekannt; doch liegt eine

Entſchuldigung darin, ſie wieder einmal in Erinnerung

gebracht zu haben, weil das ſenſationellſte Ereigniß der

Woche, — der Raubmord im Eiſenbahncoupee (begangen
von dem in Olmütz zum Tode verurtheilten Freud) mit
der eben geſchilderten Scene die größte Aehnlichkeit beſitzt,

nur leider nicht jenen harmloſen Ausgang genommen,

den dieſes tragikomiſche Reiſeabenteuer genommen hat.

Verſchiedenes.

Hamburg, 1. Dezember. Die „Reform“ ſchreibt:

Die letzte Sonntags⸗Nummer der „Reform“ enthielt fol-
gendes Inſerat: „Geſucht von anſtändigen, gewiſſenhaften,

kinderliebenden Bürgersleuten ein Kind unter der ſtreng-

ſten Verſchwiegenheit für 3000 Mark für eigen anzu-
nehmen. Adr. unter L. 2550 bittet man in der Exp. d.
Bl. einzureichen.“ Auf dieſe Annonce waren ſchon bis
Dienſtag Abend einhundert und fünf Adreſſeen ein-
gegangen. Viele derſelben waren auf offene (nicht cou-
vertirte) Zettel geſchrieben, andere waren auf dem Cou-

vert nicht an die aufgegebene Chiffre, ſon dern nur an die

Expedition der „Reform“ adreſſirt, und ſo erſah man,
daß faſt alle Reflectanten die allerdings etwas unklare

Faſſung der Annoce ſo aufgefaßt hatten, als ob die

Summe von 3000 Mark für die Annahme des Kindes
Die Wahrſcheinlichkeit ſpricht in-
deſſen dafür, daß die Inſerenten die 3000 Mark nicht
Ein be-
merkenswerther Beitrag zur Charakteriſtik mo derner groß-

Entſetzt taumelt der Angeredete von ſeinem Sitze

—4—.—
ᷣPDIDICIIIPIE

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