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Heidelberger Familienblätter — 1877

DOI Kapitel:
No. 27 - No. 34 (4. April - 28. April)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43707#0119

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Ballgäſte ſchneller zu expediren. Unſer Gefährt war
nun das erſte einer ſolchen Serie, und während der
Portier bei dem letzten Wagen beſchäftigt war, glaubte
er die Inſaſſen des erſten bereits ausgeſtiegen und ſchlug
die Thure zu. Der Kutſcher fuhr ab und zwar, da der
edle Gaul nicht viel Luſt zu ſpüren ſchien, noch fernere
Touren zu machen, ſchnurſtracks in ſein Quartier. Er
ſpannte aus und ſchob — borribile dictu — den Wa-
gen in die Remiſe. — Herr und Frau L. ſchliefen bei
dieſen Manipulationen ruhig weiter. Es mochten einige
Stunden verfloſſen ſein, da fuhr Herr L. endlich „empor
aus ſüßen Träumen,“ rieb ſich den Schlaf aus den
Augen und — erkannte, da der Schein einer Laterne
durch die Spalten der Remiſenthüre drang, ſofort die
ganze Situation. Entſetzt weckte er ſeine Chehälfte auf,
der ſich ein paniſcher Schrecken bemächtigte, als ſie ſich
fröſtelnd an der Seite ihres Gatten in einer Remiſe be-
fand und nicht im Saale des Opernhauſes. Doch was
war zu machen; das Geſchehene ließ ſich nicht ändern.
Die Hausbewohner wurden herausgetrommelt, und als
der Held der Geſchichte ſeine Uhr draußen bei Licht be-
;ah, war es halb zwei. Den Ball noch zu beſuchen,
dazu war es zu ſpät; man kaufte ſich an der nächſten
Ecke eine Droſchke und fuhr direkt nach dem Hotel
zurück.

Ztalieniſche Zuſtände.

In den politiſchen Kreiſen Italiens erregte es jüngſt

ungemeines Aufſehen, als ſich herausſtellte, daß ein De-
putirter, Namens Torina, ſeinen Eintritt in die Kammer
nur der lebhaften Unterſtützung des berüchtigten Banditen-
Häuptlings Leone zu verdanken habe. Torina hat es
ſeitdem für gut befunden, Rom den Rücken zu kehren,
ohne der Polizei ſeine Adreſſe zu hinterlaſſen. Ueber
den Flüchtling bringt jetzt „Fanfulla“ die unglaublichſten
Enthüllungen. Man erfährt daraus Genaueres über
ſeine Freundſchaft mit Leone, auf deſſen Kopf bekanntlich
25,000 Lire ausgeſetzt ſind. Im Jahre 1875, als der
Kronprinz Humbert dem Gelehrten⸗-Congreß in Palermo
beiwohnte, befand ſich Leone als Gaſt im Hauſe des
damaligen Deputirten Torina. Der jetzige Präfekt von
Caſerta, Soragni, leitete zu jener Zeit als erſter Rath
die Präfektur von Palermo. Die Carabinieri machten
ihm die Anzeige von der Anweſenheit Leone's in dem
Hauſe eines unverletzlichen Deputirten und verlangten
Befehl zur Hausſuchung, welche ſie auf eigene Fauſt im
Hauſe Torina's nicht vornehmen durften. Der als Prä-
fekt amtirende Soragni hielt ſich auch nicht dazu berech-
tigt; ſo blieb denn Leone ruhig in Palermo. Torina
hatte allen Grund, ſeinen Freund Leone zu beherbergen,
denn dieſer hatte ihn mit allen nur denkbaren Drohungen
bei ſeinen Wählern als Deputirten durchgebracht. Äuf
dieſe Weiſe gelangte Torina im Jahre 1874 in's Parla-
ment, wo er auf der Linken Platz nahm. Im Jahre 1876
ließ ihn Leone bei den General⸗Wahlen zum zweiten
Male ernennen. Dieſes Mal aber annullirte die Kammer
die Wahl wegen eines Form⸗Fehlers, und wäre die
Scandal⸗Geſchichte nicht vor vierzehn Tagen in ganz
Italien bekannt geworden, ſo würde er wahrſcheinlich aus
der Ballotage am letzten Sonntag mit dem Fürſten von
Bancina ſiegreich hervorgegangen ſein. Verhaftet iſt der
Mann aber noch immer nicht. Höchſt charakteriſtiſch iſt
der Kampf bei der Urne, welcher 1874 zwiſchen Leone
und dem andern Briganten⸗Chef der Gegend von Caccamo,
de Pasquale, ſtattfand. Leone beſtand auf Torina, de
Pasquale wollte einen andern Deputirten. Das verzieh

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25,000 Lire ſtanden, nie.
er de Pasquale in die andere Welt, auf ſeinem vom

Leone ſeinem Concurrenten, auf deſſen Kopf ebenfalls
Einige Monate nachher ſandte

Rumpf getrennten Kopf fand man einen Brief an die
Regierung, der kurz ſagte: „Ich ſchenke der Regierung
die 25,000 Lire, welche ſie dem Manne verſprach, der
den Briganten de Pasquale aus der Welt ſchaffen
würde. Leone.“

Ber Präſident des türkiſchen Parlaments.

Eine der intereſſanteſten Perſönlichkeiten unter denen,
auf welche ſich gegenwärtig in Konſtantinopel die allge-
meine Aufmerkſamkeit lenkt, iſt Achmed Veſik Efendi, der
Präſident des türkiſchen Parlaments. Ein Korreſpondent,
der ihn aufſuchte, um eine Eintrittskarte in die Jour-
naliſten⸗Loge zu erhalten, ſchildert ihn in anſchaulichſter
Weiſe. Achmed Veſik Efendi — erzählt er — ſpricht
ausgezeichnet Franzöſiſch. Ich fand ihn in einem Zim-
mer, deſſen Thür in den Berathungsſaal mündet, unge-
duldig hin und her ſchreitend, denn die Uhr hatte bereits
Zwölf geſchlagen, und noch war die Verſammlung
nicht beſchlußfähig. Er trug einen eng anliegenden
ſchwarzen Rock. Sein Haupt bedeckte ein Fez. Zuvor-
kommend wendete er ſich zu mir; er macht durchaus den
Eindruck eines gebildeten und höflichen Mannes. Er
ſteht etwa im fünfzigſten Lebensjahre, iſt brünett und
von mittlerem Wuchſe; ſeine Beleibtheit läßt ihn jedoch
älter erſcheinen. Das ovale Geſicht iſt von gutmüthigem
Ausdrucke. Seine Carriêre begann er als außerordent-
licher Kommiſſär in Kleinaſien, dann ging er nach Paris
und als er zurückkehrte, erhielt er zuerſt das Portefeuille
der Juſtiz, dann dasjenige der öffentlichen Arbeiten. Die
Art insbeſondere, wie er das erſtere Amt verſah, iſt
ſprichwörtlich geworden. Man nennt ihn allgemein den
„Salomon der Türkei“ und erzählt mit Vorliebe folgende
Anekdote: Bei Bruſſa wohnten in zwei benachbarten Ge-
höften ein Türke und ein Armenier. Der Erſtere jagt
eines Tages zu Pferd auf Haſen, das Pferd ſtürzt und
ſchleift dann den Reiter, deſſen einer Fuß im Steigbügel
hängen geblieben, üder die Stoppeln. Der Armenier,
der dieſem Vorfall von ferne zuſchaut, ſchießt, um den
Türken zu retten, auf das Pferd und tödtet es. Einige
Monate darauf kommt Achmed Veſik als außerordent-
licher Kommiſſär nach Bruſſo. Der Türke verklagt bei
ihm den Armenier, weil derſelbe ihm das Pferd erſchoſſen
habe. Achmed Veſik läßt den Armenier zitiren. „Haſt
du das Pferd erſchoſſen?“ fragte er. — „Ja, aber nur
um dem Reiter das Leben zu retten.“ — „Ewet (gut),
du zahlſt ihm 50 Lire.“ — Der Armenier kratzt ſich
hinter den Ohren, zahlt und ſchleicht fort. Am andern
Tage wird der Türke zitirt. „Hat er dir das Leben ge-
rettet?“ fragt Achmed Veſik wieder. — „Ja.“ — „Sof
biſt du ſein Leibeigener oder löſeſt dich mit 20,000
Piaſtern von ihm los.“ Der Türke jammert und
heult, es nützt nichts. Er zahlt die Summe ſeinem Le-
bensretter. Solche Rechtspflege vertrug man unter Abdul
Aziz nicht; als gar Achmed Veſik den Biſchof von Bruſſa
in Ketten legen und wegen Simonie nach der Hauptſtadt
eskortiren, ein anderesmal ſogar den jüngſt verſtorbenen
Kabuli Paſcha, den damaligen Gouverneur von Bruſſa,
wegen angeblicher Beſtechlichkeit feſſeln ließ, ſendete man
den geſtrengen Mann „zur Luftoeränderung“, wie man
in Stambul ſagt, nach London. Als Präſident der Kam-
mer waltet Achmed Veſik muſterhaft. Die Deputirten
ſehen zu ihm empor wie zu einem Propheten. Jedes
 
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