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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0023

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Zum aktuellen Stand der Forschung

19

trachten sind, wird hier ebenso wenig erläutert wie im
vierten Band des Rembrandt-Corpus, der ausschließ-
lich Rembrandts Selbstdarstellungen gewidmet ist.35
Eine übergreifende Untersuchung zur Entwick-
lung des Bildtyps der Tronie im Werk Rembrandts
sowie zu den unterschiedlichen Funktionen, die die-
se erfüllten, wurde von der Rembrandt-Forschung
bisher nicht vorgelegt. Generell hat sich die in ähn-
licher Weise bereits von Bauch vertretene Ansicht
durchgesetzt, dass Rembrandt Tronien zu Beginn
seiner Tätigkeit vornehmlich zu Studien- und werk-
vorbereitenden Zwecken - als >Ausdrucksstudien<
oder >Studienköpfe< - produzierte, sich der Bildtyp
jedoch bald verselbständigte und der Meister Tro-
nien spätestens in Amsterdam in erster Linie für den
freien Markt schuf.36
Im Jahr 1990 veröffentlichte Lyckle de Vries einen auf
dem Gebiet der Tronie-Forschung richtungsweisenden
Aufsatz mit dem Titel »Tronies and other Single Figured
Netherlandish Paintings.«37 Der Autor thematisiert in
seinem Beitrag sowohl die Genese der niederländischen
Tronie als auch die Schwierigkeiten der Abgrenzung
gegenüber anderen Bildformen, wobei Werke Rem-
brandts im Mittelpunkt der Untersuchung stehen.
De Vries unterscheidet vier verschiedene Kategorien
niederländischer Einfigurenbilder des 17. Jahrhunderts
mit jeweils spezifischer Entwicklungsgeschichte: einfi-
gurige Historienbilder, einfigurige Genrebilder, Studi-
en bzw. Tronien und Porträts. Als »>studies< or >cha-
racter studies<«38 bzw. »tronies« begreift de Vries im
Ausschnitt reduzierte Bilder mit nur einer Figur, die
kein komplexes ikonographisches Programm oder
überhaupt keinen genau festzulegenden ikonogra-
phischen Inhalt aufweisen.
Die Verbreitung von Tronien im 17. Jahrhundert
führt der Autor auf zwei unterschiedliche Tradi-
tionsstränge zurück. Erstens legt er nahe, dass die
Werke als Folge einer Entwicklung innerhalb der
Genremalerei zu verstehen seien: Durch das zuneh-
mende Studium der Realität sei die Festlegung ein-
figuriger Genrebilder auf bestimmte Stereotypen
und ihre Bindung an bestimmte Darstellungstradi-

tionen im Laufe des 16. und insbesondere im frü-
hen 17. Jahrhundert immer stärker zurückgetreten,
so dass viele der Werke ikonographisch nicht mehr
genau bestimmt, sondern lediglich als Charakterstu-
dien eingestuft werden könnten. Zu den Vorgängern
entsprechender Werke des 17. Jahrhunderts zählt de
Vries Charakterköpfe Pieter Bruegels d. A.
Zweitens betrachtet de Vries flämische Studien-
köpfe, die bereits im 16. Jahrhundert von Künstlern
wie Frans Floris zu werkvorbereitenden Zwecken
eingesetzt wurden, als wichtige Vorläufer der hol-
ländischen Tronie des 17. Jahrhunderts. Irreführend
ist, dass der Autor schreibt, Floris habe Kopfstudien
als »independent art form«39 in die niederländische
Kunst eingeführt. Denn wenngleich sich die Bilder in
den Niederlanden zu geschätzten Sammelobjekten
entwickelten, waren sie doch ursprünglich nicht als
solche intendiert.40 Die posthume Beliebtheit der
Kopfstudien von Floris erkläre sich daraus, dass es
sich um authentische Werke des Meisters handelte,
die aufgrund der Darstellung einer ungewöhnlichen
Perspektive, einer effektvollen Beleuchtung oder
eines bestimmten Gesichtsausdrucks die künstle-
rische Virtuosität ihres Schöpfers dokumentierten.
Auch bei den im 17. Jahrhundert geschaffenen Tro-
nien holländischer Künstler waren die ästhetischen
Qualitäten der Werke de Vries zufolge von zentraler
Bedeutung für das Interesse der Käufer an den Bil-
dern.41
De Vries betont, dass ein Künstler bei der Anfer-
tigung eines Porträts die Wünsche des Auftraggebers
respektieren und umsetzen musste, während ihm die
Schöpfung einer Tronie größere Freiheiten ließ.42
Trotz dieser grundsätzlichen Differenz bleibt die
eindeutige Unterscheidung von Porträt und Tronie
aus Sicht des Autors jedoch mit Schwierigkeiten ver-
bunden. Mit Blick auf verschiedene phantasievoll ge-
kleidete Halb- oder Dreiviertelfiguren Rembrandts,
seiner Schüler oder Nachfolger schreibt er: »The
question should be asked if these are histonated por-
traits of unidentified sitters in unidentified stories,
single figured history pieces showing unidentified
literary figures represented by unknown models,

35 RRP 1982-2005, Bd. 4.
36 Vgl. u. a. Bruyn / Wetering 1982, S. 8; Tümpel 1986, S. 57-61,
187-205; Veen 1997/98, S. 69, 71; Wetering 1999/2000, S. 21;
Winkel 1999/2000, S. 60f.
37 Vries 1989. Der Aufsatz erschien im Leids Kunsthistorisch
Jaarboek des Jahrgangs 1989, publiziert wurde der Band erst
1990.

38 Vries 1989, S. 191.
39 Vries 1989, S. 191.
40 Zu Floris’ Studienköpfen vgl. Velde 1975, Bd. 1, S. 65-74.
41 Vries 1989, S. 198.
42 Vries 1989, S. 192, 197.
 
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